Auserkoren
sie den Grund kennt, weshalb mir so flau im Magen ist. Weiß sie, dass ich unser Zuhause verlassen und nie mehr zurückkommen werde? Sie weiß es bestimmt. Sie ist ja zehn und mit zehn ist man schon fast eine Frau.
»Der Morgen ist wunderbar«, sagt Laura zu Margaret.
»Zieh nicht so ein Gesicht«, sage ich zu ihr.
Margaret weicht meinem Blick aus. »Besonders fröhlich wirkst du auch nicht gerade.«
Ich höre nicht auf das, was sie sagt. »Mach schneller«, ermahne ich sie und zupfe neben der singenden Carolina Unkraut. »Wasser, bitte, Margaret.«
»Du wirst uns bald verlassen«, sagt sie.
Ich nicke.
»Sprich nicht davon«, mischt Laura sich ein. Sie blickt vom Käfersammeln auf, zerquetscht die Tiere zwischen den Fingern und lächelt mich an. Laura ist viel unempfindlicher als ich. »Darüber mache ich mir überhaupt
keine Sorgen. Vater hat gesagt, dass er mit dem Propheten reden will, und das wird er auch tun. Wenn jemand die Meinung des Propheten ändern kann, dann er.«
»Du hast recht«, sage ich. Ich habe das Gefühl, als läge eine Schlinge um meinen Hals. Und diese Schlinge zieht sich immer fester zu. »Vater ist zum Propheten gegangen.«
Ich höre, wie hinter den Nachbarwohnwagen meine anderen Brüder und Schwestern arbeiten, sie lachen schon am frühen Morgen und beeilen sich. Ein Hahn kräht, er weckt die Sonne auf.
»Aber der Prophet hat doch gesagt, dass er eine Offenbarung hatte«, wendet Margaret ein. »Kann Vater auch eine Offenbarung ändern?«
Laura schweigt.
»Vater kann alles«, stellt Carolina fest.
Margaret gießt schweigend die Beete.
Ich arbeite weiter, jäte Unkraut aus dem feuchten Boden. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung weht, kann ich unsere Hühner gackern hören, und ich rieche sie auch.
Aus den anderen Wohnwagen hört man Rufe. Ich stehe auf, strecke mich und lausche. Das ist Adams Stimme. Und die Stimme von Emily.
Was ist gestern geschehen, nachdem ich weggerannt bin? Hat Mariah weitergeschrien? Haben sie alle geweint? Hat Vater sie getröstet? Oder haben sie gesagt, die Heirat sei ein Segen für mich?
Onkel Hyrum. Onkel Hyrum .
Ich stehe im Garten und drücke die Augen ganz fest zu.
Meine Sünden sind schuld daran. Ganz bestimmt .
Carolina hört auf zu singen. »Kann ich jetzt gießen?«, fragt sie.
Ich nicke. »Natürlich.« Schnell nehme ich meine kleine Schwester in den Arm. Carolina lässt sich von mir drücken und küssen. Ihr Gesicht ist dicht an meinen Lippen.
In diesem Moment sehe ich alles klar vor mir. Ich blicke Laura an, meine beste Freundin. Ich blicke die mürrische Margaret an. Spüre Carolinas Nähe. Spüre die Wärme ihres Körpers, als ich sie im Arm halte. Rieche den Duft des Morgens. Sehe, wie die Sonne den Himmel langsam in zarten Farben erstrahlen lässt. Das alles sollte mir eigentlich helfen. Das alles sollte mich eigentlich von meinen Ängsten befreien. Aber stattdessen überfällt mich ein schrecklicher Gedanke.
Ich sehe alle meine Schwestern, wie sie mit dem ältesten Mann der Gemeinde verheiratet werden, mit Bruder Nile Anderson. Verheiratet, ausgerechnet mit ihm. Er muss hundertundfünfzig Jahre alt sein. In Gedanken sehe ich seine altersfleckigen Hände, seine gelben Fingernägel und die dicken blauen Adern, die so aussehen, als würden sie jeden Augenblick platzen.
Die vergangene Nacht ist daran schuld, dass ich ausgerechnet jetzt daran denken muss. Natürlich ist das der Grund. Denn genau so ist unser Leben, erkenne ich mit einem Mal, während ich meine kleine Schwester im Arm halte.
Wir sind für die Männer da.
Ich versuche, mich zu erinnern, wann zum letzten Mal ein junger Mann eine junge Frau geheiratet hat. Aber mir fällt keine einzige Hochzeit ein, soweit ich zurückdenken
kann. Es scheint, dass nur die alten Männer junge Mädchen heiraten.
Wie mein Onkel und ich.
Der Gedanke ist wie ein Fausthieb in den Magen.
Carolina beginnt zu zappeln, sie reißt sich von mir los, packt den schweren Wassereimer und fängt an, die Rettiche und Paprika zu gießen. Jetzt singt sie wieder. Aber Laura sieht mich nachdenklich an.
»Was ist los?«, fragt sie. »Ist dir ein Hase übers Grab gelaufen?« So sagt Vater immer, wenn eine von uns eine Gänsehaut hat.
Ich kann nur zaghaft nicken.
»Kyra?«, fragt Laura. Sie streckt die Hand nach mir aus, berührt mein Handgelenk mit ihren rundlichen Fingern. »Ist es wegen gestern Abend?«
Ich schüttle den Kopf. Ich kann doch nicht sagen: Ich habe Angst um dich. Ich kann doch
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