Auserkoren
weiß ich aus den Büchern der Rollenden Bibliothek, dass sie wahrscheinlich ins Krankenhaus müsste. Drei Babys sind schon gestorben und auch sie wäre um ein Haar fast gestorben.
Ich fasse meiner Mutter unter die Arme und versuche, sie aufzurichten. Das einzig Schwere an ihr ist der Bauch. Sie wankt ein bisschen, und ich versuche, sie mit meinem Körper zu stützen.
»Na so was, Kyra«, sagt Mutter, und sie klingt erstaunt. Ihr Atem riecht schauderhaft. »Du bist ja so groß wie ich. Wann, um Himmels willen, bist du so gewachsen?«
Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich gelächelt. Aber mir ist jede Freude genommen worden. »Mutter«, sage ich, »so groß bist du nun auch wieder nicht. Laura ist fast ebenso groß wie du.«
Mutter steht gebeugt da und hält sich den Bauch. Sie nickt.
»Ich bringe dich wieder ins Bett. Dann mache ich dir etwas Leichtes zu essen.«
Wieder nickt sie.
Ich decke sie zu, streichle über ihren Kopf, dann gehe ich in Richtung Küche. Ich bin noch nicht dort, als Mutter sagt: »Kyra Leigh. Vater und ich, wir haben miteinander geredet. Er ist schon ganz früh am Morgen zum Propheten gegangen. Er wird das alles wieder richten, da bin ich mir sicher.«
Sie hat dunkle blaugraue Schatten unter den Augen.
Ich frage mich, wie lange sie heute Nacht geschlafen hat. Carolina, die auf einer Pritsche unter dem Fenster schläft, rollt gegen die Wand.
»Ich habe seinen Zettel gelesen.« Mein Herz klopft, weil sie das gesagt hat. Weil er mir das versprochen hat. Vielleicht habe ich ja doch eine Chance.
In der Küche fange ich an, Muffins aus Hafermehl mit Apfelbrei für meine Schwestern und für mich zuzubereiten, für meine Mutter mache ich Toast mit etwas Erdbeermarmelade.
Ich stelle Wasser auf, um Tee für sie zu kochen. Ich höre, dass Laura aufwacht, und lausche Carolinas Kinderstimme. Mutter gibt ihr Antwort. Margaret summt ein Kirchenlied vor sich hin, in dem es heißt: Jesus ist wie der Morgen. Draußen ist es noch dunkel.
Die ganze Küche riecht nach Zucker und Zimt. Wasser brodelt. Ich halte mit meiner Arbeit inne und hoffe inständig, dass mein Vater mich retten wird. Ich hole den Zettel, den er geschrieben hat, falte ihn zusammen und stecke ihn in meinen BH, damit er ganz dicht an meinem Herzen ist.
Ich nehme den Toast für meine Mutter und bestreiche ihn mit Erdbeermarmelade, die ich selbst mit hergestellt habe.
Mutter liegt im Bett, Carolina hat sich neben sie gekuschelt und plappert und plappert.
»Danke, Kyra«, sagt Mutter.
»Gern geschehen.«
»Ich möchte etwas zu essen«, quengelt Carolina und setzt sich auf.
»Komm mit«, sage ich. Ich stelle Mutters Frühstück auf den Nachttisch.
»Ich möchte auch im Bett frühstücken«, sagt Carolina.
»Wirklich?«, fragt Mutter. Sie drückt Carolina an sich. »Dann darfst du hierbleiben.«
»Juhuu!« Carolina wirft ihre Ärmchen um Mutters Hals.
»Wie wär’s mit Muffins?«, frage ich. »Was hältst du davon, Carolina?«
Was, wenn Vater kein Glück hat?
Und sofort ist die Angst wieder da.
Nicht daran denken!
»Ja, ja, ja«, ruft Carolina, deren Gesicht noch verquollen ist vom Schlaf.
Was, wenn … Schon der Gedanke daran raubt mir den Atem. Ich könnte auf der Stelle in den Armen meiner Mutter sterben. Schnell gehe ich wieder zurück in die Küche.
Mutter ist so mager, so blass. Ich liebe sie so sehr, dass ich gar nicht darüber nachdenken mag. Sie ist meine Mutter, natürlich. Aber sie ist auch meine Freundin. Was soll ich anfangen, wenn ich nicht mehr bei ihr wohnen kann? Was soll ich tun, wenn ich hier ausziehen und bei Onkel Hyrum leben muss? Meine Mutter, meine Familie wegen Joshua zu verlassen, fiele mir schon schwer genug.
Aber nicht so. So nicht.
Die Angst ist wie eine Faust, die mir die Brust zusammendrückt. Sie steigt in mir auf, als wolle sie mit einem lauten Schrei ausbrechen.
»Du musst sie loswerden«, sage ich.
Laura ist inzwischen in der Küche, sie sitzt am Tisch
und liest in der Heiligen Schrift. Sie trägt ihr Hauskleid, das Haar fällt lose über ihre Schultern.
»Was willst du loswerden?« Sie sieht mich fragend an.
»Nichts«, antworte ich rasch. Wenn ich mich nur genug anstrenge, dann wird die Angst verschwinden. Und wenn ich lesen würde. In meinem Baum habe ich ein Buch. Harry Potter und der Stein der Weisen klemmt zwischen den Ästen, sodass es nicht runterfallen und niemand es entdecken kann. Ich habe es schon gelesen, aber ich könnte es noch einmal lesen. Lesen würde mich ablenken.
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