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Auserkoren

Titel: Auserkoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Oder Klavier spielen. Oder vielleicht auch Joshua.
    Später am Nachmittag werde ich wieder zur Rollenden Bibliothek von Ironton gehen. Bis dahin kann ich noch warten. Bestimmt.
    Ich tische Haferflocken auf und ziehe die Muffins aus dem Ofen. Die Mädchen und ich knien neben Mutters Bett nieder und beten. Auch Mutter betet, sie bittet Gott, sich des größten Anliegens, das wir auf dem Herzen haben, anzunehmen.
    Denkt sie an das Gleiche wie ich? Bittet sie Gott, worum auch ich ihn bitte? Bittet auch Vater darum? Auch meine anderen Mütter?
    Später sitze ich wieder neben Mutter im Bad als sie das bisschen Toast und Tee erbricht. Die Erdbeermarmelade sieht aus wie Blutklumpen. Ich bete für Mutter Sarah. Und für mich.
     
     
    »Vergesst nicht«, hat Prophet Childs gesagt, »Gott bestraft die Sünder.«

    Er hat gepredigt, mit einer Stimme, die so schneidend war wie die Blätter der Ölweide, dass eine Frau, die während der Schwangerschaft oder bei der Geburt des Kindes stirbt, eine Sünderin ist. Er hat gesagt, dass gekaufte Arznei Teufelswerk ist. Er hat gesagt, dass die Ärzte sich in Gottes Plan einmischen und uns die Freiheit nehmen, die uns Gott gegeben hat.
    Aber ich bin anderer Meinung. Denn eines weiß ich genau. Und wenn mir jemand zuhörte, dann würde ich es ihm ins Ohr sagen: Ich kenne meine Mutter. Sie ist so gut wie die Sonne an einem kalten Tag. Sie ist so lieb zu mir, wie eine Honigwabe süß ist. Manchmal krieche ich nachts zu ihr ins Bett, wenn Vater bei einer anderen Frau ist. Sie streichelt mir dann übers Haar und sagt zu mir: »Kyra, du bist Musik für mich.«
    Prophet Childs hat gelehrt, dass es falsch ist, seine Gedanken auf das zu richten, was außerhalb der Umzäunung liegt, in der die Erwählten leben. Dass es falsch ist, von denen, die draußen leben, etwas anzunehmen.
    »Wir begnügen uns mit uns und mit dem, was wir haben«, hat er gesagt.
    Aber ich habe die Zeitungen gelesen, die mir die Rollende Bibliothek von Ironton einmal in der Woche bringt. Ich weiß, es gibt Hilfe für schwangere Frauen. Draußen.
    Wenn man wegginge, gäbe es Hilfe.
     
     
    Ich habe eine große Schar Brüder und Schwestern, ich kann kaum einen Schritt tun, ohne jemandem aus der Familie über den Weg zu laufen. Meine Mutter ist die
dritte Frau meines Vaters. Unsere Wohnwagen stehen im Kreis wie eine Wagenburg ums Lagerfeuer; jede Mutter wohnt mit ihren Kindern in einem eigenen Wagen. So ist es hier überall in der Siedlung, nicht nur bei uns. Die Väter und ihre Frauen wohnen beisammen. Sie bilden einen Kreis. Es ist ein Abbild der ewigen Gemeinschaft, die wir später im Himmel erleben dürfen.
    Manchmal trifft sich die ganze Familie am frühen Morgen, dann lesen wir die Heilige Schrift und stellen uns alle im Kreis auf und beten.
    Aber nicht an diesem Morgen, denn Vater ist ins Allerheiligste des Tempels gegangen, um mit dem Propheten zu sprechen, dorthin, wo sich an den meisten Tagen der Prophet mit den Aposteln trifft, noch ehe die Sonne aufgegangen ist.
    Aber nicht an diesem Morgen. Während Mutter im Bett liegt, arbeiten meine Schwestern und ich im Garten. Zu jedem Zuhause gehört ein großer Garten. Die Gärten wurden dem Wüstensand abgetrotzt, mit Dünger und Humus fruchtbar gemacht, den man auf Lastwagen von draußen herbeigeschafft hat. Oder aus den Ställen, in denen nachts die Kühe stehen. Oder aus den Hühnerhöfen, die auch zu jedem Wohnwagen gehören.
    Es ist noch ganz früh, der Tag kündigt sich gerade an. Am östlichen Horizont wird es bereits hell und alles um uns herum sieht grau aus wie auf einem alten Foto. Genauso ist mir zumute , ich fühle mich matt und grau.
    »Jesus liebt die kleinen Kinder« , singt Caroline mit ihrer hohen, dünnen Stimme. Es klingt undeutlich, denn sie kann noch nicht alles richtig aussprechen. Um ihr Kleidchen
zu schonen, hat sie eine Schürze umgebunden. Ihre Sportschuhe sind voller Dreckspritzer. An ihrem Kinn kleben Haferflocken.
    Margaret, die morgens immer ein bisschen griesgrämig ist, steht in der Nähe mit einer Gießkanne in der Hand. Die andere Hand hat sie in ihre schlanke Hüfte gestützt, so wie ich es bei Joshua gemacht habe, so wie es auch Mutter Claire macht. Margarets dunkles Haar ist noch offen, es hat sich im Schlaf gelöst. Ihre Lippen sind ein einziger schmaler Strich, sie lächeln kein bisschen. Ihre braunen Augen blicken grimmig.
    »Was ist los?«, fragt Laura. Aber Margaret gibt ihr keine Antwort. Einen Augenblick lang frage ich mich, ob

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