Auserkoren
als sonst. »Du könntest schon selbst mit einem alten Mann verheiratet sein«, sagte sie.
»Halt den Mund«, sagte ich.
Und dann hat sie gelacht.
Das erste Kind zu sein bedeutet mehr, als nur frühzeitig (oder als Erste) verheiratet zu werden. Es bedeutet auch, dass man Verantwortung übernehmen muss.
Wäre ich ein Junge, dann dürfte ich mehr tun, so wie alle anderen Jungen hier auch. Ich dürfte Auto fahren, und zwar ganz rechtmäßig. (Mutter hat mich schon ein paar Mal mit unserer Familienkutsche fahren lassen. Ich habe mich eigentlich gar nicht so dumm angestellt, obwohl sie danach behauptete, sie hätte einen steifen Nacken.) Ich dürfte für den Propheten arbeiten und den Familien Nachrichten von ihm überbringen oder Botengänge zwischen ihm und den Aposteln erledigen. Ich dürfte öfter mit den anderen in die Stadt fahren. Ich dürfte bei den Kadern Gottes mitmachen. Ich dürfte Offenbarungen von ihm empfangen, die meine Familie angehen.
Ich könnte wählen, wen ich heiraten will.
Die meisten Tage schleichen träge dahin. Sie sind mit Arbeit ausgefüllt und meist kann ich mich nicht davonstehlen und Klavier spielen oder lesen.
Aber der Tag heute vergeht wie im Flug. Heute wünsche ich mir sogar, die Stunden mögen langsamer vergehen. Damit ich Zeit habe, die ich geborgen mit meiner Familie verbringen kann , denke ich. Zeit, damit mein Vater mit dem Propheten sprechen kann. Damit sich alles wieder ändert für mich.
»Kyra«, sagt Mutter Sarah. An diesem Nachmittag geht es ihr nicht so schlecht, und deswegen kann ich mich mehr sorgen um das, was mir bevorsteht. Sie sitzt gestützt in ihrem Bett, löffelt Hühnerbrühe und gibt auch mir und Laura und Margaret und Carolina etwas davon ab. »Kyra, du bist eine so große Hilfe für mich«, sagt sie. »Die Suppe schmeckt, als hätte sie Mutter Claire selbst gemacht.«
»Es ist ihr Rezept«, sage ich. Und das ist beinahe die Wahrheit.
Es ist tatsächlich das Rezept von Mutter Claire, aber ich habe die Suppe gestern, bevor das Schreckliche geschehen ist, aus ihrem Kochtopf gestohlen und ihn mit Wasser nachgefüllt. Deswegen plagen mich jetzt Gewissensbisse. Ist das der Grund, weshalb ich meinen Onkel heiraten muss? Weiß der Prophet, dass ich das so mache, seit meine Mutter schwanger ist? Dass ich Essen von den anderen Müttern gestohlen habe, damit ich selbst nicht kochen muss? Will er mir eine Lektion erteilen?
Ich kann Mutter nicht ansehen, weil ich genau weiß, sie hat noch nie einer anderen Frau Suppe aus dem Topf gestohlen. Erst recht nicht so oft, wie ich es getan habe.
»Mutter«, fange ich an und bereite mich im Stillen darauf vor, ihr zu beichten, wie schwer es ist, weil ich für
so viele kochen muss. Weil ich Klavier spielen möchte. Oder lesen. Oder Joshua treffen. Aber nicht schon wieder kochen.
Sie blickt mich an, ihre Miene ist jetzt viel gelöster als zuvor.
Ich mache den Mund zu und gestehe nichts. Sie muss das jetzt nicht wissen. Ich werde es ihr später sagen, wenn das Baby da ist, vielleicht nach der Taufe. Vielleicht wenn ich schwanger bin und es mir auch nicht gut geht. Bei dem Gedanken daran dreht sich mir der Magen um. Mir ist der Appetit vergangen.
Carolina hüpft auf dem Bett herum. Ihre blonden Zöpfe tanzen. Auf ihrer Stirn stehen Schweißtröpfchen.
»Hüpf nicht so, Kleines«, sage ich und versuche, mein Schuldgefühl zu unterdrücken, indem ich besonders nett zu Mutter bin. »Sonst tut Mutters Bauch weh.«
Unsere Mutter nickt dankbar. Sie isst ein paar Löffel, ein paar gibt sie den Kindern.
Carolina hört auf herumzuhüpfen und sagt: »Fächle Mutter mehr Luft zu, Laura. Es ist heiß.«
»Ich fächle, so fest ich kann«, antwortet Laura. Sie lächelt. Aber ich sehe, dass sie sich Sorgen macht.
Von Lauras Fächeln und von dem großen Ventilator, der in der Ecke steht, umweht uns von allen Seiten die heiße Wüstenluft. Wenn wir nur eine Klimaanlage hätten wie der Prophet und die Apostel, dann wäre es für Mutter etwas angenehmer in ihrer Schwangerschaft.
Der Prophet.
Ob Vater noch bei ihm ist?
Zum Glück hängt im Küchenfenster ein Verdunstungskühler,
sonst hätten wir uns garantiert alle schon in einer Dampfwolke aufgelöst.
»Hier ist es heiß wie in der Hölle«, sagt Margaret und grinst.
»Margaret«, tadelt Mutter. »So redet eine Erwählte nicht.«
Margaret verzieht ihr Gesicht, aber sie lächelt weiter. Ich wette, es macht ihr Spaß, dieses ungehörige Wort in den Mund zu nehmen. »Aber so
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