Auserkoren
steht’s doch in der Bibel«, sagt sie.
Laura fächelt heftiger und bittet: »Erzähl uns von der Zeit, als du klein warst, Mutter.«
Also erzählt uns unsere Mutter von ihren Bibelstunden, als das Leben noch einfacher war, weil noch nicht alles so sündig war wie heute. Als die Erwählten öfter das Gemeindegebiet verlassen durften. Wie sie in die nächste Stadt gegangen ist und mit ihren Brüdern Eis am Stiel gegessen hat. Das war damals, als es noch keinen Zaun gab, damals als Prophet Childs’ Vater noch unser Führer war.
Wir alle schweigen, denken an das Eis am Stiel. Wenigstens ich denke daran. Und daran, dass Vater nicht so alt war, als Mutter ihn heiratete.
»Du hattest Glück, dass du damals gelebt hast«, seufzt Margaret. »Und es tut mir leid, dass ich Hölle gesagt habe.« Da ist es wieder, ihr Grinsen.
Mutter sieht Margaret an und sagt: »Es sei dir vergeben.« Dann atmet sie tief aus. »Ja, ich hatte wirklich Glück.«
Ich verlasse den Wohnwagenplatz, langsam wie immer, damit alle glauben, ich mache nur einen Spaziergang, genau so, wie ich schon seit wer weiß wie vielen Jahren Spaziergänge mache.
Beobachten sie mich jetzt, weil ich erwählt bin? Ob sie mir wohl folgen? Während ich einfach drauflosgehe, schaue ich immer wieder hinter mich. Ich bin wachsam.
Als ich die Wohnwagen nicht mehr sehen kann, als ich mir sicher bin, dass mir niemand folgt, fange ich an zu rennen. Ich bleibe erst wieder stehen, als ich keine Luft mehr kriege. Zwei Meilen die Straße entlang, bis zu jener Baumgruppe, die hier draußen, außerhalb der Siedlung, den einzigen Schatten spendet. Und da steht auch schon die Rollende Bibliothek von Ironton.
Sie parkt und wartet.
»Hallo«, begrüße ich Patrick, als er die Tür des Lieferwagens öffnet. Er sitzt auf seinem Sitz und wartet.
»Guten Nachmittag, Miss Kyra.« Patrick nickt und rückt seine Baseballmütze zurecht.
Ich möchte ihm alles sagen. Ich möchte, dass er weiß, was bei mir zu Hause vor sich geht. Dass ich erwählt wurde. Das aber nicht sein will. Doch die Worte bleiben mir im Hals stecken, sie wollen einfach nicht über die Lippen kommen. Stattdessen lege ich Harry Potter und der Stein des Weisen vor ihn hin.
»Es hat mir sehr gut gefallen«, stoße ich mühsam hervor. »Es war großartig.« Ich habe einen Kloß im Hals. Ob ich wohl auch kommen kann, wenn ich verheiratet bin? Werde ich dann immer noch Bücher bekommen? Immer noch lesen?
Patrick lächelt und sagt: »Meine Schwestern mögen das Buch auch. Es gibt noch weitere Bände davon, weißt du.«
Ich gehe nach hinten in den Lieferwagen und lasse mich auf die Knie fallen. Ich bin so traurig, dass ich für die Bücher keinen Blick übrig habe. Wie bin ich nur auf die Idee verfallen, es würde helfen, wenn ich hierherkomme? Hier quält mich nur der Gedanke, dass ich vielleicht nie wieder Bücher entleihen kann.
»Suchst du was Bestimmtes?«, fragt mich Patrick von seinem Platz aus.
Ich zucke die Schultern, ohne auch nur den Kopf zu heben, ich weiß nicht mal, ob er mich bei seiner Frage angesehen hat. »Nicht unbedingt«, antworte ich. »Ich hatte nur gehofft …« Ich hatte nur gehofft. Was genau hatte ich eigentlich gehofft? Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich plötzlich das Gefühl, ich sollte mit der Rollenden Bibliothek von Ironton mitfahren.
Im hintersten Winkel ist ein Ständer mit Zeitungen, sie hängen dort wie Decken. Aus Wörtern gemachte Papierdecken. Es sind Zeitungen aus allen Teilen des Bundesstaats und aus den benachbarten Staaten, sogar eine Zeitung aus New York ist dabei. Eine Zeitung aus New York, hier bei uns.
Zeitungen habe ich bisher nur gelesen, wenn der Wind eine von dem Müllhaufen in der Nähe des Tempels fortgeblasen hat und sie dann am Zaun hängen blieb. Sie waren immer vergilbt und steif gewesen, als hätten Sonne und Wind sie gehärtet.
Doch hier, in der Rollenden Bibliothek von Ironton,
riechen die Zeitungen nach Druckerschwärze. Sie sind neu und beinahe weich.
»Wir bekommen Gesellschaft«, sagt Patrick plötzlich.
»Was ist los?«
»Versteck dich«, sagt er. »Lass dich nicht blicken. Du bist gar nicht da.«
Mir gefriert das Blut in den Adern, ich bin ganz wacklig, ich zerfließe. Wie ist das möglich, dass man zugleich gefroren ist und zerfließt? Selbst wenn ich wollte, ich könnte jetzt nicht aus dem Fenster schauen.
Ich krieche hinter den Zeitungsständer, ziehe mein Kleid ganz fest an mich und warte; mein Herz pocht so laut in meiner
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