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Auserkoren

Titel: Auserkoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Minuten. Eine innere Stimme warnt mich, das nicht zu tun. Und ich vertraue dieser Eingebung. Hinein, hinaus, nach Hause und das Buch im Baum verstecken, wenn das Wetter schön ist.
    Aber an diesem Nachmittag bin ich ein paar Minuten länger als sonst geblieben. Ich las die Bücher, die wir früher auch zu Hause hatten. Mir wurde flau im Magen, als ich diese Bücher sah. Ihr Anblick brachte die Erinnerung an den Rauch zurück. Und an die Zeit davor, als wir zusammen
mit Vater im Wohnwagen auf dem Fußboden saßen, er uns Mädchen in die Arme genommen hatte, auch die Mutter war da, und wir alle gemeinsam lasen.
    »Ich habe Nathan, meinem Jungen, fast jeden Abend Den Fuchs mit den Strümpfen von Dr. Seuss vorgelesen«, unterbrach Patrick meine Gedanken. Er nippte aus einer Tasse, auf der in weißen Buchstaben Schluckspecht stand.
    Ich zog Hop on Pop vom selben Autor aus dem Regal und ich musste wieder an Prophet Childs und den Tag der Reinigung denken. Es war die erste von vielen Reinigungen, aber natürlich wusste ich das damals nicht. Die Erinnerung daran überfällt mich. Der Geruch von Rauch ist plötzlich wieder da.
    »Bringt eure Bücher her«, hatte Prophet Childs gesagt.
    Ein Feuer, so hoch wie ein Scheunendach, war auf dem Parkplatz vor dem Tempel angezündet worden. Schon von fern spürte ich die Hitze. Die Funken stoben auf und verglühten in der Nacht.
    »Bringt die Worte des Teufels her. Verbrennt sie alle«, hatte der Prophet gesagt.
    Und alle brachten ihre Bücher. Bilderbücher und Kinderbücher. Zeitungen und Zeitschriften. Romane und sogar Readers Digest.
    »Bringt die Worte des Feindes«, hatte Prophet Childs gesagt. »Und ich werde euch dafür die Wahrheit bringen. Ich werde euch ins Himmelreich führen.«
    Auch Vater und die Mütter aus meiner Familie brachten, was sie hatten. Die Kinder, die Jugendlichen, ich. Wir alle warfen die Bücher in die Flammen. Und die Flammen hatten sie im Nu verschlungen.

    Laura war damals fünf Jahre alt. Sie warf alle Bücher von Dr. Seuss, die sie hatte, ins Feuer. Und dabei weinte sie. Ich tanzte und sang mit den Erwählten, aber Laura weinte.
    Als ich sie weinen sah, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass das, was ich tat, falsch war.
    Ich ging zu Laura, nahm sie bei der Hand und warf das zerfledderte Exemplar von Hop on Pop nicht ins Feuer. Mit diesem Buch hatte ich lesen gelernt, und sie auch.
    »Wir werden das verstecken«, sagte ich. Überall war Rauch. Überall war Geschrei. Die Stimme des Propheten.
    Aber Vater hatte uns gesehen.
    »Verbrennt es«, befahl er.
    Ich hielt das Buch hinter meinem Rücken. »Lass uns nur dies eine behalten«, bat ich.
    Vater kniete sich vor uns hin. »Das sind die Worte des Teufels. Ihr habt doch gehört, was der Prophet gesagt hat. Wir müssen gehorchen.«
    »Nur dies eine«, bettelte ich. Ich schlang die Arme um seinen Hals, flüsterte ihm ins Ohr. »Nur dieses eine für Laura. Sie liebt es so sehr.«
    Ich weiß noch, mein Inneres glühte so wie mein Äußeres von dem Feuer.
    »Nur dieses eine«, bettelte auch Laura und umarmte den Vater. »Bitte.«
    Vater zögerte einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf.
    »Wirf es hinein«, befahl er Laura.
    Weinend warf sie das Buch ins Feuer.
    »Das ist gut für dich«, sagte Vater und drückte Laura
fest an sich. »Gott wird dich dafür segnen«, sagte er. »Gott sieht alles, was du tust. Ich werde dem Propheten sagen, wie treu du bist.«
    Vater schaute zu mir, dann ins Feuer. Er wirkte so traurig. »Kyra«, sagte er, »du musst gehorsam sein.«
    An all das musste ich wieder denken, an das Feuer, das auf meinem Gesicht brannte, an Lauras Tränen. All das fiel mir an jenem Nachmittag wieder ein in der Rollenden Bibliothek von Ironton, und ich entlieh Ein Hund namens Gracie und gab Patrick Den Fuchs mit den Strümpfen für seinen kleinen Nathan zurück.
     
     
    Als ich nach Hause gehe , sehe ich alles mit anderen Augen. Ich habe mich hier nie wirklich gefürchtet, aber heute schon. Ja, heute schon. Ich frage mich, wer alles davon weiß, wo ich gewesen bin. Ich frage mich, wer davon weiß, was der Prophet angekündigt hat. Ich frage mich, ob Vater schon wieder zurück ist.
    Wie in Zeitlupe gehe ich auf unseren Wohnwagen zu. Hinter dem Zaun sehe ich Männer auf dem Feld arbeiten. Ich sehe die Wäscheleinen der anderen Familien, auf denen Tücher und Decken, Kleider und Hosen und Babysachen aufgehängt sind.
    Im Nachmittagslicht ist der Tempel mit dem Auge, das mich beobachtet, noch

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