Auserkoren
beeindruckender. Als ich durch das Tor gehe, sehe ich drei Männer mit Sonnenbrillen, die selbst in dieser Hitze dunkle Anzüge tragen, sie treten gerade aus dem Dunkel des Tempels in den Nachmittag heraus. Die Kader Gottes. Sie sind hier, um zu beschützen.
Den Propheten. Uns. Unser Land. Aber als ich sie sehe, packt mich die Angst.
»Joshua«, flüstere ich. Ich möchte am liebsten weglaufen, aber ich zwinge mich, durch das Tor nach Hause zu gehen. So wie immer. Diesmal mit Ein Hund namens Gracie an meinen verschwitzten Bauch gepresst.
Es ist nicht das erste Mal, dass mich die Kader Gottes sehen, wie ich nach Hause komme. Als ich klein war, hat mich Bruder Simon immer begrüßt und mir rote Lakritze geschenkt.
Er ist schon lange tot.
Als Mutter Sarah noch jung war, war es gar nicht schwer, unsere Gemeinschaft zu verlassen. Aber in den vergangenen Jahren, seit alle paar Monate die Tage der Reinigung stattfinden, ist alles anders geworden.
Seit ich klein war, bin ich nach draußen gegangen, so wie heute, manchmal sind andere mitgegangen, aber seit ein paar Jahren gehe ich alleine.
Aber jetzt.
Jetzt ist es gefährlich, wenn andere es bemerken.
Joshua hat gesehen, wie ich mich zu Patrick und seiner Rollenden Bibliothek von Ironton aufgemacht habe, selbst wenn er nicht genau wusste, wohin ich gegangen bin. Er hat gesagt, dass er mich schon seit Jahren beobachtet hat.
Heißt das, dass mich andere Leute auch gesehen haben?
Haben sie gesehen, wie ich weggegangen bin?
Ich bin schon über die Grenzen hinausgegangen, kaum dass ich laufen konnte.
Zuerst mit Mutter Sarah und Vater.
Mit Emily.
Dann mit Laura.
Dann allein.
Ich bin hinter den Zaun gegangen,
die rote, staubige Straße entlang, eine holprige Straße.
Ich bin aufs Geratewohl gelaufen, umgedreht und
wieder zurückgekommen.
Haben sie sich schon so daran gewöhnt, dass ich
weggehe,
nach draußen, hinter den Zaun,
wo die Luft irgendwie anders riecht,
haben sie sich schon so daran gewöhnt,
dass es ihnen gar nicht mehr auffällt?
Mein Herz klopft, als ich an den Kadern Gottes vorbeigehe. Bruder Adamson nickt mir zu, dann dreht er sich weg. Ich atme erleichtert aus. Blinzle gegen die Sonne. Laufe, wo ich doch rennen möchte. Zuerst zu meinem Baum, um mein Buch in den dicht belaubten Ästen zu verstecken. Und dann nach Hause.
Wo mein Vater schon auf mich wartet.
II
Als ich sein Gesicht sehe , als ich Mutters Gesicht sehe, weiß ich, dass Vaters Bitte nicht stattgegeben wurde. Sie sitzen zusammen auf dem Sofa. Keine meiner Schwestern ist da. Wahrscheinlich sind sie im Wohnwagen einer anderen Mutter.
Ich falle vor meinem Vater auf die Knie. »Ich kann es nicht«, sage ich. »Vater, ich kann es nicht.«
Er sagt nichts, er legt mir nur die Hände auf den Kopf. Er streichelt mir übers Haar. Ich höre, wie meine Mutter zu weinen anfängt.
Und gerade da klopft es an der Tür.
»Bitte, ich will nicht aufmachen.« Ich krieche aufs Sofa neben Vater. Er schlingt die Arme um meine Schultern und küsst mich auf die Stirn.
Mutter öffnet die Tür.
Es ist Onkel Hyrum. Er trägt Bluejeans und ein langärmeliges Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft ist.
Ehe jemand von uns etwas sagen kann, sagt er: »zweierlei« und hebt zwei Finger, wie um seine Worte zu unterstreichen. »Ich bin aus zweierlei Gründen hier.«
Ich vergesse zu atmen, aber ich höre ihm zu.
»Erstens. Schwester Kyra. Ich möchte, dass du zu mir
zum Abendessen kommst. Eine Verabredung, damit wir uns besser kennenlernen. Morgen Abend.«
Er wartet meine Antwort gar nicht erst ab.
Eine Verabredung?
»Zweitens. Wo ist das Baby, das gestern Abend da war?«
Vater nimmt die Hand von meiner Schulter und steht auf.
»Mariah?«, fragt Vater.
»Das Kind, das so geschrien hat«, sagt Onkel Hyrum. »Und das ausgerechnet vor dem Propheten. Das war zu viel, Richard. Zu viel.«
»Sie ist noch nicht einmal ein Jahr alt«, sagt Mutter Sarah.
Onkel Hyrum schaut meine Mutter an, als wolle er sie schlagen.
»Sprich nicht, Schwester Sarah, solange ich dich nicht gefragt habe.«
Mutter schweigt und wendet den Blick ab.
»Hol das Baby, Schwester Kyra. Und seine Mutter. Du kannst jetzt gehen, Schwester Sarah.«
»Warum?«, frage ich.
Er gibt mir keine Antwort, aber Vater sagt: »Geh.«
Mutter Claire, die manchmal so gemein sein kann, wird blass, als ich ihr sage, dass Onkel Hyrum Mariah sehen will, und sie selbst auch.
»Oh nein«, sagt sie. »Oh nein.«
Mariah schläft auf einer Decke in der
Weitere Kostenlose Bücher