Auserkoren
wieder.
»Sie haben sie getötet«, sagt Mutter.
Ich erinnere mich! Ich erinnere mich!
Der Schuss.
Mutter und Vater und die anderen Mütter haben danach darüber gesprochen. Mit gedämpften Stimmen. Flüsternd haben sie uns ermahnt, wenn wir alle beisammensaßen, dass wir gehorsam sein und Gott lieben sollten.
Vater weinte. Er ließ den Blick über seine Kinder schweifen und weinte. Es war eines dieser großen, bedeutsamen Familientreffen, wir saßen alle beisammen, die Frauen meines Vaters und seine Kinder, alle meine Brüder und Schwestern. Ich schlang die Arme um seinen Nacken. Ich fürchtete mich, aber ich wusste nicht, wovor.
Vater hielt mich fest auf seinem Schoß und drückte
mich an sich in seinem Kummer.
Der Wohnwagen liegt still da, als ich gehe, um Joshua zu treffen.
Ich mache keinen Laut, schleiche auf Zehenspitzen aus dem Bett, das ich mit meiner Schwester teile, husche zur Tür und gehe nach draußen.
Als ich draußen bin, atme ich auf.
»Ich hätte Bruder Mathias auch verlassen«, sage ich leise.
Ich gehe vorbei an dem Wohnwagen, in dem Vater und Mutter Claire schlafen und die kleine Mariah, vorbei am Wohnwagen von Mutter Victoria. Ich gehe Richtung Tempel, gehe immer den Türmen nach. Ich eile zu Joshua, aber die schreckliche Erinnerung an das, was mit Ellen geschah, nur weil sie einen anderen liebte, geht mir nicht aus dem Kopf.
Joshua ist da. Er wartet. Ich weiß es, noch ehe ich ihn sehe. Als ich in die Dunkelheit trete, die der Tempel und die Nacht verbreiten, streckt er seine Arme nach mir aus und zieht mich an sich.
»Kyra«, sagt er. »Kyra.«
In diesem Moment weiß ich, warum Ellen Bill erwählt hat. Sie muss das Gleiche gefühlt haben wie ich.
»Ich kann es nicht«, sage ich und fange an zu weinen. Unter Tränen küsse ich Joshua.
»Warte«, sagt er. »Ich möchte dir etwas erzählen.«
Aber ich will ihn nicht ausreden lassen. »Vielleicht bin ich heute zum letzten Mal mit dir zusammen«, sage ich. Und ich küsse ihn wieder, schlinge die Arme um seinen Hals, vergrabe meine Hände in seinem Haar, drücke mich so fest an ihn, wie es nur geht.
Joshua fährt mir sanft übers Gesicht. Während ich seine Lippen, seine Wangen, sein Kinn, seinen Nacken küsse, redet er.
»Kyra«, sagt er leise in der Dunkelheit und lacht beinahe dabei. »Hör zu, ich muss dir etwas Wichtiges sagen.«
»Okay«, sage ich, aber ich spüre die Verzweiflung. Oder ist es Furcht? Oder Schmerz, weil ich mich an Ellen erinnere? Habe ich Angst, dass Joshua mir jetzt sagen wird, wir müssten tun, was der Prophet uns befiehlt? Ich schließe die Augen und drücke meine Stirn an Joshuas Brust.
Er hält mich an den Schultern. »Ich habe eine Verabredung mit Prophet Childs. Um mit ihm über uns zu sprechen. Um ihm zu sagen, dass ich dich erwählen möchte. Dass ich dich heiraten möchte.«
Ich mache den Mund auf, will etwas sagen, aber Joshua redet weiter.
»Ich habe um eine Eingebung gebetet«, fährt er fort, »und ich glaube, wir sollten zusammen sein.« Er hält inne. »Natürlich nur, wenn du mich willst, Kyra.« Wieder macht er eine Pause. Ein Windhauch weht von der Wüste her, er ist kühl und es riecht nach Salbei. »Willst du mich als deinen Mann?«
Ich weiß nicht, wann Joshua mein Joshua wurde. Ich weiß nicht, wann ich ihm zum ersten Mal die Augenlider
geküsst habe. Ich weiß nicht, wann ich ihm zum ersten Mal das Haar aus der Stirn gestrichen habe.
Aber das weiß ich: Aus tiefstem Herzen möchte ich seine Frau sein.
Vor einiger Zeit habe ich Joshua von der Rollenden Bibliothek von Ironton erzählt und dass ich dort Bücher ausgesucht und mitgenommen habe. Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen. Ich konnte nur hoffen, dass er mich nicht für total verrückt hält, weil ich so total verrückte Sachen mache.
»Sieh mal, was ich da habe«, sagte ich in jener Nacht.
Es war eine helle Nacht, der Vollmond stand butterfarben am Himmel. Ich hielt Joshua das Buch hin, noch ehe ich ihn zur Begrüßung umarmte.
Er nahm es mir aus der Hand. »Heimwärts?« Er sagte kein Wort, blickte nur auf den Titel, als verstünde er nicht, was er da sah.
Mein Herz schlug bis zum Hals, ich bekam fast keine Luft mehr.
»Kyra«, sagte er und sah mich im Mondlicht an. »Weißt du, was das ist?« Einen Augenblick lang kam ich mir vor wie Eva, als sie Adam den Apfel reichte. Würde Joshua hineinbeißen?
Ich nickte, meine Zöpfe spannten, Tränen traten mir in die Augen. Vielleicht
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