Auserkoren
an Gott denken sollte, denke ich an eine Familie. Daran, dass Joshua und ich heiraten und eigene Kinder haben werden.
Es gibt nichts, was neu geborenen Babys gleicht. Diese zerknitterten, ärgerlichen kleinen Gesichter. Wie sie verwirrt ins Licht blinzeln. Diese kleinen Fäustchen. Diese platt gedrückten Nasen. Ich liebe die Babys, die Gott uns schenkt.
All diese kleinen Kinder, die zu uns kommen.
Vielleicht auch zu Joshua und mir.
Vielleicht.
Zum Abendessen taucht Onkel Hyrum auf, keiner von uns hat ihn erwartet.
Seinetwegen muss Vater Mutter Victoria alleine lassen, obwohl er diese Woche mit ihr verbringt. Vater muss zum Essen in unseren Wohnwagen kommen.
»Wir brauchen einen Mann, der Anstandsdame spielt«, sagt Onkel Hyrum, »damit man sieht, dass ich ehrenhafte Absichten habe.« Lachend klopft er Vater auf die Schulter. Keiner von uns lacht mit. Er setzt sich aufs Sofa.
»Es ist schön zu sehen«, sagt Onkel Hyrum, »wie die Frauen unserer Gemeinschaft ihren Haushalt führen.«
Mutter wirft ihm einen Blick über die Schulter zu. Ich weiß, dass sie nicht vorhatte, ein üppiges Essen zu bereiten, höchstens Pfannkuchen. Sie huscht in der Küche herum, dann sagt sie: »Laura, komm zu mir. Und du, Kyra, decke bitte den Tisch.« Die beiden eilen zur Hintertür hinaus. Mutter macht nicht den Anschein, als ob es ihr besonders gut ginge. Vielleicht ist ihr beim Anblick von Onkel Hyrum schlecht geworden. Bei mir ist das
ganz sicher so. Ich versuche, ihn nicht anzusehen, während ich geschäftig den Tisch decke. Aber ich kann nicht anders, ich beobachte ihn und Vater hin und wieder heimlich, wie sie beieinander sitzen.
Sein Haar ist an den Schläfen ergraut und zurückgekämmt, er hat etwas hineingeschmiert, das es nass aussehen lässt. Sein Hemd ist wieder bis zum Hals zugeknöpft.
Carolina kuschelt sich auf Vaters Schoß. Er nimmt sie in die Arme und drückt sie fest an sich.
Nach kurzer Zeit kommt Mutter wieder zurück. Sie bringt eine Platte mit Bratenfleisch mit, an deren Rand Karotten und Kartoffeln liegen. Laura trägt in der einen Hand eine Pfanne mit Schinkenröllchen, in der anderen Hand eine Pastete. Ich wette, sie waren bei Mutter Claire. Etwas so Gutes hatten wir seit Monaten nicht, denn immer wenn unsere Mutter kocht, muss sie sich übergeben. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, so verführerisch duftet es.
Meine Mutter sagt: »Wir sind bereit, Richard.«
Vater nickt und er und mein Onkel setzen sich an den Tisch.
Onkel Hyrum übernimmt den Vorsitz, er setzt sich auf den Stuhl meines Vaters. Ich muss mich neben ihn setzen. Und auch Mutter Sarah muss mit uns essen, obwohl ihre Lippen blass werden, als sie Platz nimmt. Ich bin mir nicht sicher, ob es das Fleisch oder Onkel Hyrum ist, von dem ihr übel wird.
»Lieber Gott im Himmel«, betet Onkel Hyrum, während wir zum Tischgebet neben unseren Stühlen knien.
»Wir danken dir für diese Gabe. Wir danken dir für die Wahrheit. Hilf uns, sie zu erkennen und zu glauben. Hilf denen unter uns, die sich unterordnen müssen.«
Ich glaube, mein Herz hört auf zu schlagen. Wenn ich Glück habe, tut es das wirklich . Aber heute Nacht treffe ich ja Joshua. Bis ein Uhr in der Frühe kann ich noch warten. Bis dahin halte ich es aus.
Wir warten, bis Onkel Hyrum seinen Teller gefüllt hat. Ich achte darauf, dass immer genug Traubensaft in seinem Glas ist, wie er es mir aufgetragen hat.
Onkel Hyrum hat sechs Frauen. Sechs! Wozu braucht er noch eine? Wozu? Er ist nur gierig.
Das sieht man auch an der Art und Weise, wie er isst. Mit weit aufgerissenem Mund. Und er häuft so viel auf seinen Teller, dass für uns andere kaum noch etwas übrig bleibt.
Keiner spricht, nur Onkel Hyrum. Er redet unaufhörlich von Gott und von seiner Familie und welch ein Segen das sei. Ein Segen, der bald auch der meine sein wird.
»Ein Monat noch«, sagt Onkel Hyrum, »dann wirst du, Schwester Kyra, mir verbunden und auf dem Weg zum Himmel sein.«
Was soll ich darauf sagen? Nichts.
Was denke ich mir dabei? Mir wird übel, wenn ich dich sehe. Mit deinen spärlichen Haaren und dem Fleisch, das dir zwischen den Zähnen steckt, mit deinem Schmatzen. Mir wird übel von dir, und ich habe nicht vor, hier zu bleiben. Ich werde gehen, ich werde meine Schwestern von hier wegbringen. Ich werde gehen und du kannst mich nicht zurückhalten.
Er lächelt und ich sehe seine Zahnlücken, und für mich ist das noch ein weiterer Grund, ihn zu hassen.
Er redet und redet. Über
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