Auserkoren
ansteckendes Lachen.
Erinnern die anderen sich noch?
Ich erinnere mich.
Ich gehe in den Wohnwagen zurück. Mein Gehirn arbeitet fieberhaft.
Bill ist weggelaufen.
Mutter und Vater stehen in der Küche. Er hat die Arme um sie geschlungen und sie hat sich an ihn gelehnt.
Sieh nur, was du angerichtet hast , denke ich. Sieh nur, wie bekümmert sie sind.
»Komm her, Kyra«, sagt Mutter. Sie breitet die Arme aus und Vater und Mutter drücken mich fest an sich.
Ich presse mein Gesicht an das Gesicht meiner Mutter. Ihre Augen schwimmen in Tränen. Sie ist so traurig, dass ich sie nicht anschauen kann. In ihrem Gesicht kann man ablesen, wie ich mich fühle.
Vater gibt uns beiden einen Kuss aufs Haar. Er hält uns fest und geborgen. Aber es ist eine Lüge, so wie er mich hält. Er kann gar nichts tun, um mich zu retten. Dabei ist er doch mein Vater.
Müssen Väter ihre Töchter nicht beschützen?
So stehen wir zu dritt ein paar Minuten lang. Dann sagt Vater: »Ich muss gehen.«
Er lässt mich und Mutter Arm in Arm stehen.
Ich bin hundemüde. Ich bin so müde, ich könnte einfach umfallen. Wenn ich nur umfiele.
Ich führe Mutter zu ihrem Bett. Gerne würde ich heute Nacht von ihr zugedeckt werden. Ich möchte, dass sie unter mein Bett schaut, ob sich keine Ungeheuer dort versteckt haben, möchte, dass sie meine Decke glatt streicht, meine Kissen aufschüttelt. Aber beim Abendessen habe ich ihr Gesicht gesehen. Sie ist mit ihren Kräften am Ende. Ich setze mich auf die Bettkante.
»Erzähl mir von Bill und Ellen«, bitte ich sie.
Zuerst sagt Mutter gar nichts, dann fragt sie: »Du erinnerst dich an die beiden?«
Ich zucke mit den Schultern. Durch das Fenster fällt ein schwacher Lichtschein. Wir sind nur Schatten in dem Raum, ich weiß gar nicht, ob sie mich sieht. Hier drinnen riecht es nach Lavendel. Lavendel soll Mutters Magen beruhigen. »Ich musste nur gerade an sie denken«, sage ich.
Wieder schweigt Mutter. Schließlich sagt sie: »An ihr hat man ein Exempel statuiert.«
Ich nicke. Die Luft ist heiß und stickig, sie ist schwer wie eine Wolldecke.
»Schwester Ellen hat Bruder Mathias geheiratet«, fährt Mutter fort.
Diesen Teil der Geschichte hatte ich vergessen. Richtig, sie hatte geheiratet.
Damals heirateten viele. Dreizehn, vierzehn Mädchen wurden mit verschiedenen Männern verheiratet, darunter Ellen, eine Tochter von Bruder Bennion. Sie musste Bruder Mathias, einen Apostel, heiraten. Damals war er
mindestens siebzig Jahre alt. Seine Zähne waren gelb. Seine Augen auch. Sie waren beinahe so gelb wie Eidotter. Bei den Versammlungen saß er in der vorderen Reihe des Tempels, zusammen mit all den anderen in ihren weißen Anzügen, die über uns wachten.
Ellen weinte bei der Feier. Oh, wie sie weinte. Sie hat geheult, sich gewehrt, nach ihrer Mutter geschrien, nach ihrem Vater. Sie hat gefleht, er solle sie retten.
»Sie weint«, sagte ich damals zu Mutter. Vom bloßen Zusehen hatte ich Angst bekommen.
»Psst«, machte meine Mutter und drückte meine Hand.
»Sie will nicht verheiratet werden«, sagte ich zu Laura.
Laura schaute mich an, ihr Mund stand offen wie ein kleines O. Ihre Augen, die sie sonst immer zusammenkniff, waren weit aufgerissen.
Der Prophet redete lauter.
Und es war Sheriff Felix, der Ellen mit einem derben Schlag ins Gesicht zum Schweigen brachte, damit die Zeremonie weitergehen konnte.
»Und was ist dann geschehen?«, frage ich.
»Sie hat jemand anderen kennengelernt«, sagt Mutter. Ihre Stimme wird zu einem Flüstern, obwohl wir beide alleine sind. »Sie liebte einen anderen.«
»Wie meinst du das?«, frage ich. Und ich denke dabei an Joshua. Oh, Joshua.
»Sie haben miteinander geschlafen«, wispert sie. »Ehebruch.« Es ist, als hätte sie die Worte in den kleinen, stillen Raum hinausgeschrien. Neben uns dreht sich Carolina auf ihrer Pritsche um und murmelt etwas vor
sich hin. »Mit Bill Trophy.«
Mutter Sarah holt tief Luft. Dann sagt sie: »Sie war meine Cousine.« Im Flüsterton spricht sie weiter. »Bill war so alt wie Ellen. Vielleicht ein Jahr älter. Sie haben ihn weggeschickt. Keiner weiß, was dann passiert ist. Er ist einfach verschwunden.«
Plötzlich ist es so leise und so still, dass ich höre, wie ich schlucke.
»Und was ist mit ihr passiert? Was war mit Ellen?«, frage ich. »Hat man sie auch weggeschickt?«
Nebenan dreht sich jemand um und stößt gegen die Wand. Erschrocken zucke ich zusammen.
»Was ist mit Ellen passiert?«, frage ich
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