Auserkoren
Schwestern und meine Brüder und meinen Vater verlassen, um bei meinem Onkel zu leben. Der Gedanke ist schwer wie Blei.
Mutter Victoria biegt nach links ab, wo es zur Stadt geht. Es sind etwa fünfzig Minuten zu fahren, genau in die entgegengesetzte Richtung, die ich einschlage, wenn ich zur Rollenden Bibliothek von Ironton gehe.
Meine Mütter fangen alle gleichzeitig zu reden an, sobald wir die Siedlung hinter uns gelassen haben. Sie lachen miteinander. Sie necken sich. Sie erzählen davon, wie es »früher« war, als sie in die Stadt fahren konnten, wann immer sie wollten.
Wir fahren über die holprige Straße in die Zivilisation, dorthin, wo es die Sachen gibt, mit denen ich ein neues Leben anfangen soll, das ich gar nicht will. Und die ganze Zeit über höre ich sie lachen und plaudern.
Ich werde die siebte Frau sein.
Einmal, es ist schon ein paar Jahre her, bekam ich mit, wie Mutter Sarah auf Mutter Victoria wütend war.
Ich hatte an der Hintertür gelauscht, sie stand offen,
um die frische Morgenluft in den Wohnwagen zu lassen. Ich spähte durchs Fenster. Ich konnte alles sehen. Laura und ich sollten eigentlich Ungeziefer auf den Melonenfeldern einsammeln. Aber ich hörte Mutters Stimme aus dem Küchenfenster.
»Sie ist nur böse auf mich, weil ich jünger bin«, sagte sie.
Irgendetwas in ihrer Stimme machte mich neugierig. Ich schlich mich unters Fenster und lauschte.
»Was machst du da, Kyra?«, fragte Laura. Sie hatte die Arme verschränkt und sah mich an. »Du sollst mir helfen.«
Ich legte den Finger an die Lippen. »Gleich«, flüsterte ich. »In einer Minute.«
»Es ist Eifersucht«, sagte Mutter Claire. »Wir alle sind eifersüchtig, weil wir uns einen Mann teilen müssen.«
»Manchmal wird sie richtig gemein«, sagte Mutter Sarah.
»Du sollst doch arbeiten«, sagte Laura.
Ich wedelte mit der Hand, als würde ich Fliegen verscheuchen. »Psst«, zischte ich. Und ich dachte: Einen Mann teilen? Was soll das heißen? Wie geht das? Etwa so, wie ich mir die Arbeit mit Laura teilte? Oder meine Spielsachen mit der kleinen Margaret?
Eine Minute lang war es still im Wohnwagen. Dann sagte Mutter Claire: »Befolge das, was uns der Prophet sagt, Sarah. Wir geben etwas auf, damit wir ein besseres Leben im Jenseits führen können.«
»Ich weiß«, antwortete meine Mutter mit tränenerstickter Stimme. »Aber ich werde niemals die erste
Frau sein. Ich werde für ihn immer nur die dritte Frau sein.«
Wann hatte Mutter Sarah diese Trauer überwunden? Wie lange hatte ihr Kummer angehalten? Wäre sie ebenso eifersüchtig gewesen, wenn Vater ein alter Mann wie Onkel Hyrum gewesen wäre?
»Ist es schön, die Dritte zu sein?«, hatte ich Mutter später, viel, viel später einmal gefragt. Ich weiß noch, Vater war bei einer anderen Frau, aber ich weiß nicht mehr, bei welcher.
»Was meinst du damit?«, hatte Mutter gefragt. Es war Zeit zum Schlafengehen, und meine jüngeren Geschwister schlummerten schon oder machten sich gerade fertig, um ins Bett zu gehen. Mutter zog gerade ihr bodenlanges Nachtgewand an.
»Du bist die dritte Frau«, sagte ich. Ich schaute vom Bett aus durchs Fenster. Erst vor Kurzem hatte ich mich zum ersten Mal heimlich mit Joshua getroffen. Ich überlegte, ob ich ihn auch mit jemandem teilen könnte? »Hast du das Gefühl, nur an dritter Stelle zu sein?«
»Oh«, sagte sie überrascht.
Aus den Augenwinkeln sah ich zu, wie sie ihr Haar löste. Es war so lang, dass sie darauf sitzen konnte. Und es war auch sehr dicht. Es war schön, dieses Haar durch die Hände gleiten zu lassen. Das habe ich oft gemacht, wenn ich es im Licht der nackten Glühbirne hier in diesem
Raum so lange gebürstet habe, bis es glänzte.
Ob Vater das auch macht?
Der Gedanke verwirrte mich.
»Bist du jemals eifersüchtig?« Eigentlich hatte ich sagen wollen: immer noch. Bist du immer noch eifersüchtig? Aber ich ließ es bleiben.
Meine Frage stand im Raum. Aber Mutter überging sie einfach und setzte sich aufs Bett.
Nach einer Weile sagte sie: »Das ist Gottes Wille, Kyra. So hat es Gott für uns bestimmt. So hat es uns Prophet Childs gelehrt.«
Aber was glaubst du? , hätte ich sie gerne gefragt. Doch ich tat es nicht. Stattdessen fuhr ich mit der Bürste durch Mutters Haar, das seidig und fest war und nach Lavendel duftete.
Eines Tages , dachte ich , gehe ich von zu Hause weg und gründe meine eigene Familie.
Zugleich war ich erschrocken darüber, wie sehr ich alles vermissen
Weitere Kostenlose Bücher