Auserkoren
ich und tippe auf das Bild eines Mädchens in kurzem Kleid. Mariah hält meine Hand fest und ich gebe ihr einen Kuss. »Wie kann man nur so etwas anziehen?«
Laura zuckt mit den Schultern. Dann ballt sie die Hände zu Fäusten und sagt mit tiefer Stimme: »Das ist Teufelswerk.«
Ich lache, auch Mariah lacht, so als hätte sie verstanden, worüber wir sprechen.
Als wir wieder im Auto sitzen und zu Applebee’s fahren, denke ich darüber nach, ob das alles hier, die Geschäfte, die Leute, die Tattoos, das Werk Satans und seiner Gefallenen Engel ist. Kann es sein, frage ich mich, und das ist ein neuer, ein beängstigender Gedanke, dass alles andere in der Welt schlecht ist und nur die Erwählten recht haben? Wir sind doch so wenige und deren Zahl geht in die Milliarden.
Einmal, etwa zwei Jahre nachdem Prophet Childs unser Anführer geworden war und begonnen hatte, unsere Gemeinschaft abzuschotten, kamen Menschen von draußen zu uns.
»Sie sind Jünger des Satans«, hatte uns Prophet Childs gewarnt.
Fernsehteams kamen zu uns, Männer und Frauen, die Interviews von ihm wollten. Er aber sagte, er würde mit niemandem sprechen, solange es ihm nicht Gott befehle. Und Gott hat es dem Propheten niemals befohlen, mit ihnen zu sprechen.
Viele Leute hielten an und sahen zu, wie der Zaun errichtet wurde. Ganze Familien kamen mit dem Auto, alte Ehepaare und Reporter. Sie alle sahen ungläubig zu, wie die Männer und die Jungen Löcher gruben, Beton
mischten und unser Land mit dem Maschendrahtzaun einzäunten. Jede Woche kamen sie und wollten Interviews. Und jedes Mal stellten sich ihnen die Kader Gottes entgegen, die Gewehre griffbereit und in schwarzen Anzügen, egal wie heiß es war.
»Wenn ihr sie bemerkt, diese Leute mit den Augen, die alles sehen, mit diesen Kameras, dann lauft weg«, hatte uns Prophet Childs auf unseren Versammlungen gesagt. »Sie sind allesamt des Teufels. Sie sind gekommen, um uns zu versuchen und uns zu bestehlen. Sie reißen den Müttern die Kinder von der Brust. Sie lehren euch die Sitten der Welt. Sie führen euch geradewegs in die Hölle.«
Ich weinte, als ich das hörte. »Vater, sie wollen uns dir wegnehmen.«
Aber Vater hielt mich fest. Er tätschelte mein Gesicht, setzte auch Laura auf seinen Schoß und küsste uns auf die Wangen. »Sie können euch nicht mitnehmen«, sagte er. »Ich bin ja da.«
Ich habe die Männer und Frauen gesehen, wie sie ganz dicht an den Zaun kamen und filmten. Also rannte ich davon.
»Laura!«, schrie ich.
Ich packte sie und Emily, um sie fortzuschaffen, weg von den Kameras. Eine Zeit lang konnten wir nicht nach draußen gehen, ohne von diesen Augen der Welt verfolgt zu werden, von all diesen Kameras, die immer auf uns gerichtet waren. Ich habe keinen Schritt mehr vor die Tür gemacht, bin nicht mehr zu meinem Baum gegangen.
Und ich habe geträumt. Von Satan, der schwarze Hörner auf dem Kopf hat und Augen, rot wie Feuer.
»Mutter«, rief ich mehr als einmal in jeder Nacht.
»Was ist, Kyra?«
»Der Teufel ist zu mir gekommen. Er hockt im Schrank.«
»Das tut er nicht«, sagte sie dann immer, knipste das Licht an und zeigte es mir.
In manchen Nächten rief ich: »Er ist unter meinem Bett.«
In einer anderen Nacht: »Ich habe ihn am Fenster gesehen.«
»Ich bin da«, sagte meine Mutter jedes Mal. »Ich bin da. Du bist in Sicherheit. Niemand kann dich mir wegnehmen.«
»Wir müssen uns beeilen«, sagt Mutter Claire, als wir uns bei Applebee’s zum Mittagessen hinsetzen. »Wir müssen dich zur Verabredung mit Bruder Hyrum rechtzeitig wieder nach Hause bringen.«
»Bitte«, sage ich schneidend, »erinnert mich nicht daran.«
»Pass auf, was du sagst«, ermahnt sie mich.
Laura stößt einen Seufzer aus.
Ich fürchte schon, Mutter Claires Worte haben mir den Appetit verdorben, bis mir die Bedienung einen Teller mit Hühnchen und Garnelen vor die Nase setzt. Das Essen ist so köstlich, dass ich nicht widerstehen kann.
»Kein Wunder, dass ihr hierherkommen wolltet«, sage ich zu Mutter Victoria, und sie lacht so vergnügt, dass ich ihre Backenzähne sehen kann.
Wir sitzen zu fünft um den Tisch, Mariah sitzt auf einem Hochstuhl. Es ist das erste Mal, dass ich alle meine Mütter beisammen sitzen sehe, außer bei den Gottesdiensten.
»Ihr lacht ja alle«, sagt Laura zu ihnen.
Unsere Mütter blicken erst uns, dann einander an, dann schmunzeln sie.
»Ich will Onkel Hyrum nicht heiraten«, sage ich. Ich platze damit heraus, gerade in
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