Auserkoren
Kyra. Ich bin ein guter Ehemann. Es soll dir an nichts fehlen. Du wirst die schönsten Sachen bekommen.«
»Ja«, sage ich. Ich habe das Gefühl, mein Herz lässt mich jeden Moment im Stich.
»Gut.« Im Licht, das vom Tempel kommt, sehe ich, wie Onkel Hyrum lächelt. Irgendetwas Gutes muss er an sich haben. Irgendetwas Gutes . Tante Melissa scheint ihn doch wirklich zu lieben.
»Ich sorge gut für meine Frauen«, sagt Onkel Hyrum, als wir vor unserem Wohnwagen stehen. Er zieht mich an sich. Seine Arme sind wie Schraubzwingen aus Stahl. »Ich bin sanft zu den Neuen.«
»Was tust du da?«, frage ich voller Angst.
»Es hat keinen Sinn, gegen mich zu kämpfen«, sagt Onkel Hyrum. Sein Atem riecht nach Kartoffeln. »Egal wie, ich bekomme, was ich will.«
Ich wehre mich. Er hält mich fester. Er ist einen Kopf größer als ich. Und er ist mir viel zu nahe. Es ist etwas ganz anderes, wenn Joshua mich an sich zieht.
»Es ist Gottes Gesetz, dass du mir gehören wirst.«
»Nein«, rufe ich. »Mutter! Nicht jetzt. Jetzt noch nicht.«
»Gib mir einen Gutenachtkuss.«
»Nein!«
Ich wehre mich mit aller Kraft gegen Onkel Hyrum.
Dann ist Vater da.
»Du bist noch nicht mit ihr verheiratet, Hyrum«, sagt er und nimmt mich bei der Hand.
Mein Onkel lässt mich los und streicht sich das Hemd glatt. »Es nützt nichts zu kämpfen, es macht alles nur noch schlimmer. Es nützt nichts, sich zu wehren, es macht alles nur noch schwerer. Sag ihr das, Richard.«
War Vater auch so zu Mutter in der Nacht, als er zum
ersten Mal mit ihr geschlafen hat? Hat er sie zur Liebe gezwungen? Hat sie sich gegen ihn gewehrt?
Oh, wie soll ich das je ertragen?
Als alle anderen schlafen, knie ich mich nieder und fasse unter mein Bett. Meine Fingerspitzen fühlen sich schmierig an, und egal wie oft ich sie wasche, ich werde dieses Gefühl nicht los. Es ist, als klebe das Hühnchen noch immer an meinen Händen.
Unter meinem Bett liegt ein Rucksack, ein alter orangefarbener Rucksack. Ich werde ihn vollpacken und dann gehen. Wenn Joshuas Gespräch mit dem Propheten zu nichts geführt hat, dann gehe ich.
Bill hat es getan.
Ich kann es auch.
»Kyra?« Laura setzt sich im Bett auf.
»Was ist?« Ich will gar nicht so laut sprechen, aber sie hat mich erschreckt. Da ist er, der Rucksack.
Laura sieht mich an. »Wie war’s?«
Ich muss daran denken, wie mich Onkel Hyrum bis zu unserer Haustür begleitet hat. Und an Vater … an Vater, der mich gerettet hat.
»Schrecklich«, sage ich tonlos. »Schlimmer als alles, was du dir vorstellen kannst.« Ich knie noch immer auf dem Boden und wische meine Finger am Bettlaken ab.
»Warum?«
Meine Schwester, die zugleich meine beste Freundin ist, beugt sich zu mir herab. Ihr Haar ist offen und fällt ihr über die Schulter. Ich liebe sie so sehr, dass ich alles
tun würde, um sie zu retten. Während ich sie ansehe, im fahlen Licht der Nacht, rasen die Gedanken durch meinen Kopf. Weshalb leben wir hier? Wie sind wir hierhergekommen? Wie kommen wir wieder von hier weg?
Was haben uns Vater und Mutter nur angetan?
Gerade der letzte Gedanke tut besonders weh. Nach einer Weile krieche ich zu Laura ins Bett.
»Mach mal Platz«, sage ich zu ihr, »dann rutsche ich ganz nah an dich ran.«
Sie macht mir Platz. Ich lege meine Arme um sie. Sie ist warm und schlank und ich spüre ihre Knochen. Sie ist noch ein Kind. Wann wird man sie verheiraten?
»Was ist passiert?«, fragt sie.
Ich kann nicht gleich antworten, zuerst muss ich tief Luft holen. »Als er mir einen Gutenachtkuss geben wollte, sind mir die Nerven durchgegangen.«
»Er wollte dich küssen?«
»Ich habe es nicht zugelassen.«
Laura nickt. »Nur damit du es weißt, ich würde ihm auch nicht erlauben, mich zu küssen.«
Wir schweigen wieder. Draußen weht ein stetiger Wind über die Wüste. Ich rieche den Shampoo-Duft in Lauras Haar. Ich rieche meinen eigenen Schweiß.
»Ich habe nachgedacht«, beginnt Laura. Sie spricht leise. »Ich möchte auch keinen alten Mann heiraten. Besonders dann nicht, wenn er mein Onkel ist.« Sie macht eine Pause. »Wenn ich könnte, dann würde ich mir selbst einen Mann aussuchen.«
Ich drücke meine Augen ganz fest zu, dann nicke ich und sage: »Lass uns nicht mehr darüber sprechen.«
Schwestern sollten ihr ganzes Leben lang beieinander bleiben. Ich drücke einen Gutenachtkuss auf Lauras Hinterkopf. Dann versuche ich zu schlafen.
Ich weiß noch genau, wie ich Laura gehalten habe. Mutter
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