Auserkoren
erzählt mir immer wieder die Geschichte und hält damit die Erinnerung wach, ich selbst war damals ja noch klein. Mutter saß neben uns, sie half mir, das Köpfchen des neugeborenen Babys zu stützen. Irgendjemand machte einen Schnappschuss von uns, wie wir drei beieinander saßen.
»Ist sie nicht wunderschön?«, fragte meine Mutter zärtlich.
»Nein«, sagte ich.
Und das war sie auch nicht. Ihr Gesicht war rot und aufgedunsen, ihre kleinen Hände waren zu Fäusten geballt. Und wenn sie die Augen aufschlug, konnte man nicht einmal genau sagen, welche Farbe sie hatten.
Mutter Sarah lachte. »Oh, Kyra«, sagte sie.
Ich will meine Familie nicht verlassen.
Das ist das Erste, woran ich denken muss, als ich am nächsten Morgen aufwache und an die Decke des Wohnwagens starre.
Ich will meine Familie nicht verlassen.
Das ist das Erste, woran ich beim Frühstück denken muss.
Carolina ist griesgrämig. Aber als sie mich sieht, kommt
sie zu mir gelaufen und stürzt sich in meine Arme. Ich bedecke ihr Gesicht mit Küssen.
Margaret summt ein Kirchenlied vor sich hin. Während sie den Tisch deckt, tanzt sie sogar ein bisschen. Dann nimmt auch sie mich in den Arm.
Laura sieht mich liebevoll an, um meine Traurigkeit zu verscheuchen, so wie sie es sonst mit unseren Allerkleinsten macht.
Ich will meine Familie nicht verlassen.
Ich fürchte, ich kann nie mehr an etwas anderes denken.
Aber ich habe keine andere Wahl. In nicht einmal einem Monat werde ich mein Zuhause verlassen und bei Onkel Hyrums Familie leben. In nicht einmal einem Monat werde ich nie wieder neben meiner Schwester schlafen können.
Aber wenn ich weglaufe …
Mutter und Vater sind in ihrem Schlafraum. Ich höre, wie sie reden. Was sagt er ihr?
Überall riecht es nach Haferflocken mit braunem Zucker. Der Wohnwagen ist noch kühl von der Nacht, die frühe Morgensonne lässt den Osthimmel in einem zarten Blau erstrahlen.
Ich möchte schreien. Ich möchte schreien und zu Prophet Childs rennen. Ich möchte ihm sagen: »Lass mich und meine Familie in Ruhe. Lass mich bei meiner Mutter und bei meinen Schwestern bleiben. Lass mich zu Hause bleiben.«
Aber was würde er sagen?
Gottes Wille geschehe.
Das würde er sagen.
Ich weiß es genau.
Wie kann ich zu Onkel Hyrum gehen?
Wie seine schmierigen Lippen küssen?
Wie sein Hühnchen essen?
Und wie mich von ihm berühren lassen?
Mir bleibt nur noch so wenig Zeit.
Wie kann ich das ertragen?
Ich muss weg von hier.
Nach dem Frühstück hole ich die Nähmaschine hervor. Wir räumen den Tisch ab und stellen sie auf. »Lasst uns als Erstes den Stoff genau zuschneiden«, sagt Mutter. Sie faltet den Stoff einmal zusammen und legt ihn auf den Fußboden.
Ich muss an den schönen grünen Teppich im Haus von Onkel Hyrum denken. Bei uns ist der Teppich so alt und an der Haustür und vor den anderen Türen schon so zerschlissen, dass man fast die Matten darunter sieht.
»Muss das heute sein?«, frage ich.
»Ich will nur den Stoff zuschneiden«, sagt Mutter beschwichtigend und legt den Arm um mich. Schweigend nehmen mich auch meine drei Schwestern in den Arm.
»Es wird schon alles gut werden«, sagt Mutter. Ihre Stimme klingt, als ob sie betet. Das Kind in ihrem Bauch tritt mich.
»Ich will nicht, dass Kyra weggeht«, sagt Margaret.
»Ich auch nicht«, sagt Carolina und fängt laut zu weinen an.
»Ich auch nicht«, sagt Laura.
Es klopft an der Tür. Mutter wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht und geht, um aufzumachen.
Es ist Sheriff Felix.
»Was gibt’s?«, frage ich. Ich muss sofort an Patrick denken. Aber er kann jetzt nicht da draußen sein. Es dauert noch ein paar Tage, bis er wieder kommt.
Mein zweiter Gedanke gilt Josh.
»Kyra Leigh. Der Prophet möchte dich sprechen.«
»Jetzt gleich?«
Sheriff Felix nickt.
»Aber weshalb denn?«, fragt Mutter. »Und warum so früh am Morgen?«
Sheriff Felix überhört die Frage.
»Ich muss mich erst noch umziehen«, sage ich.
»Nein«, sagt er. »Komm sofort mit. So wie du bist.«
Ich eile zur Tür, Mutter ebenso.
»Du nicht, Schwester«, sagt der Sheriff zu ihr.
»Ich gehe mit«, sagt Mutter. »Ich muss wissen, was mit meiner Tochter passiert.« Sie ist blass geworden.
»Der Prophet hat nach Schwester Kyra verlangt. Und nur nach ihr.«
»Hol deinen Vater«, sagt Mutter zu Laura. Die fragt nicht erst lange, sondern läuft sofort zur Hintertür.
Meine Mutter umarmt mich noch einmal, als ich hinaus in den Morgen trete. Es
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