Auserkoren
ist kühl. Der Himmel ist in helles Blau getaucht. Wir müssen nicht sehr weit gehen, aber meine Knie zittern so, dass ich fürchte, ich werde es nicht schaffen.
»Warum will er mich sprechen?«, frage ich Sheriff Felix.
Etwa weil ich Onkel Hyrum nicht küssen wollte? Hat er mich verpetzt? Darf der Prophet bestimmen, wen ich küsse, noch ehe ich überhaupt verheiratet bin?
Bei diesem Gedanken wird mir ganz kalt, innerlich und äußerlich. Als wir zum Tempel kommen, zittere ich am ganzen Leib.
Ich war erst ein einziges Mal in den oberen Räumen des Tempels, und das auch nur wegen einer übermütigen Wette. Die Kader Gottes haben mich damals fortgejagt. Jetzt warte ich im Empfangsraum.
Durch das riesige Glasfenster sehe ich alles, unsere ganze Siedlung. Weiter draußen liegen verstreut die Häuser des Propheten und der Apostel, darunter auch das Haus, in dem ich nach der Hochzeit mit Onkel Hyrum wohnen werde. Ich sehe das üppige Grün des Rasens vor dem Haus, und ich sehe die Wohnwagen, in denen die Erwählten wohnen. Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich vor meinem Auge sogar den Wohnwagen, in dem ich wohne.
Eine Tür fliegt auf.
»Schwester Kyra.«
Es ist Onkel Hyrum.
Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich schaffe es kaum, ihm zuzunicken. Auch meine Füße versagen mir den Dienst. Aber mein Herz klopft doppelt so schnell wie sonst. Es flattert wie ein Kolibri in meiner Brust.
Ich muss plötzlich daran denken, wie ich in der Rollenden Bibliothek von Ironton auf dem Fußboden saß
und ein Buch über Kolibris gelesen habe. Ich spüre es beinahe, wie ich im Schneidersitz dasitze, eine Seite nach der anderen umblättere und zum ersten Mal Kolibris mit ihren leuchtend roten Kehlen betrachtete.
»Prophet Childs will dich sprechen.«
Onkel Hyrums Stimme ist eisig.
Irgendwie schaffe ich es, ihm zu folgen. Wir gehen einen Gang entlang. An den Wänden hängen Bilder. Es sind Bilder von Jesus, von Prophet Childs’ Vater, von dem Propheten vor ihm sowie von dessen Vorgänger. Auch ein Bild von Prophet Childs hängt an der Wand, er steht auf Jesus’ rechter Hand. Beide lächeln sich an.
Der Teppich unter meinen Füßen ist flauschig. Der Gang ist klimatisiert, es ist so kühl, dass ich meine Arme reibe, um die Gänsehaut zu vertreiben. Meine Mutter würde sich an einem Ort wie diesem wohlfühlen. Hier wäre es nicht so heiß für sie.
»Hier hinein«, befiehlt Onkel Hyrum.
Das Zimmer ist riesig. Eine Fensterfront gibt den Blick frei nach draußen. Drei Computer sind da. Zwei Wände voller Bücher. Ein riesiges Fernsehgerät. Ein dunkelgrüner Teppich. Ein Schreibtisch, der so groß ist, dass ich mit Laura und Carolina darauf schlafen könnte.
Prophet Childs steht am Fenster und blickt hinaus. Die Hände hat er hinter dem Rücken verschränkt. Er wippt auf den Absätzen seiner blitzblanken Schuhe hin und her.
An der gegenüberliegenden Wand stehen Bruder Laramie und Bruder Nelson, zwei Mitglieder der Kader Gottes. Und in einem Stuhl sitzt Joshua. Mein Joshua.
»In wen bist du sonst noch verliebt?«, habe ich Joshua einmal spät in der Nacht gefragt. Der Mond schien silbern, er stand ganz tief, als hätte ihn jemand gerade noch rechtzeitig aufgefangen.
»Wie?«, fragte Joshua mit gedämpfter Stimme.
Wir hatten gerade Harry Potter zu Ende gelesen und ich wollte auch ein bisschen zaubern. Bestimmt wäre ich eine gute Magierin.
»Welches Mädchen magst du noch?«
Ich sah ihn an, betrachtete die Silhouette seines Gesichts. Wenn wir uns nur ein paar Zentimeter nach links bewegten, dann wären wir ganz in den Schatten des Tempelturms gehüllt.
»Wie kommst du denn auf diese Idee?«, fragte Joshua. Das Buch lag in seinem Schoß.
»Ach, nur so«, sagte ich ausweichend.
»Warum willst du es dann wissen?« Joshua setzte sich so, dass er den Kopf an meine Schulter lehnen konnte. Ich sah seine Sportschuhe, unter dem einen Hosenbein schaute einen heller Streifen eines Strumpfs hervor.
»Ein Mann braucht drei Frauen, wenn er in den Himmel kommen will«, sagte ich. »Das weißt du doch. Hast du dir schon zwei andere Frauen erwählt?«
Würdest du für mich in die Hölle gehen? , dachte ich, aber ich sagte es nicht. Denn was wäre, wenn ich für Joshua in die Hölle ginge, er aber nicht für mich?
Er schwieg.
»Du musst drei Frauen haben. Du musst sie küssen. Du musst sie lieben.« Ich versuchte, unbeschwert zu klingen, obwohl das, was ich sagte, mich mit Eifersucht
und Widerwillen erfüllte.
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