Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
Zerrissenheit. Meiner Meinung nach hätte dieses Foto prämiert gehört. Über dieses Kompliment hatte sich Harry damals riesig gefreut.
Jetzt fing er allerdings an, unruhig auf meinem Stuhl herumzurutschen.
„Ist blöd gelaufen“, antwortete er zögerlich. „Es war einfach Zeit für ein besseres Modell. Dachte, ich kauf mir das neue und verscherbel das alte, um ein wenig vom Preis wieder reinzubekommen. Tja. Und kaum habe ich die neue Canon gekauft, lasse ich Idiot die alte Kamera bei ihrem letzten Einsatz aus Versehen fallen. Totalschaden. Shit happens.“
„Du hast sie fallen lassen? Wie denn das?“, fragte ich erstaunt, denn wenn es etwas gab, das Harry besser hütete als seine Kronjuwelen, dann war das seine Fotoausrüstung. Er hatte sogar schon einmal eines seiner Betthäschen vor dem Schäferstündchen der Wohnung verwiesen, weil die Dame es gewagt hatte, ohne seine Erlaubnis die Kamera anzufassen. Was anderen Männern ihre Autos, war Harry seine Spiegelreflex.
Fahrig nahm Harry einen Zug von seiner Zigarette und schaffte es gerade noch, rechtzeitig in den Becher abzuaschen. Irgendwas war ihm sichtlich unangenehm. Ich wusste nur nicht, was. Vielleicht war es ihm einfach nur peinlich, zugeben zu müssen, dass er sein heiß geliebtes Spielzeug geschrottet hatte. Männer konnten ihre Fehler ja nie wirklich zugeben.
„Ich wollte ein Foto von einem Pärchen auf der Straße machen. Sie standen da schon eine ganze Weile, und ich hielt es für einen guten Shoot. Nur meine Position war schlecht, also bin ich auf eine Feuerleiter in der Nähe geklettert. Leider habe ich nicht aufgepasst, bin abgerutscht und habe die Kamera fallen gelassen. Mechanik im Arsch, Objektiv im Arsch, nur die Speicherkarte ist einigermaßen heil geblieben. War irgendwie Schicksal, dass ich bereits das Nachfolgemodell zu Hause habe. Kein günstiger Spaß, hat mich über zweitausend Euro gekostet. Ohne das Geld vom Verkauf der alten Kamera muss ich jetzt eine Weile knapsen. Aber was soll’s. Eine gute Kamera ist das Geld allemal wert.“
„Über zweitausend Euro? Wow, Harry, das ist eine Menge Schotter.“
Er zuckte die Achseln, zog noch mal an seiner Zigarette und drückte sie aus.
„Was bringt einem Geld, wenn man es nicht ausgibt?“
Zugegeben, ein begründeter Gedanke. Ich erinnerte mich dunkel an einen gewissen Whisky …
„Was machst du heute Abend?“, holte mich Harry zurück in die Wirklichkeit.
„Wieso fragst du? Möchtest du mich etwa in die Nacktbar einladen?“
Ha!
Der war gut.
Die erwünschte Reaktion trat ein, Harry verschluckte sich vor Lachen fast an seinem Kaffee.
„Frau Heidemann, seien Sie vorsichtig, das könnte man firmenintern als sexuelle Belästigung auslegen“, drohte er mir scherzhaft und hatte Mühe, seinen Husten wieder in den Griff zu bekommen.
„Herr Steet, ich hätte nicht gedacht, dass man Sie so leicht schocken kann. Aber nun mal im Ernst. Du erinnerst dich an die Sache von vorhin, von der du nichts weißt und die mir so wichtig ist?“
Er nickte.
„Nun, dann weißt du, was ich heute Abend vorhabe.“
„Schade“, antwortete Harry gespielt schmollend. „Ich hätte dich nach Feierabend gerne auf eine kleine Fotosafari mitgenommen. Die Stadt hat ihre besonderen Ecken mit besonderen Menschen. Ich hatte gehofft, du würdest ein wenig Motivsuche mit mir betreiben.“
„Sorry, ein anderes Mal gerne, für heute ist mein Tanzkärtchen voll.“
„Schon okay“, lächelte Harry und zuckte mit den Schultern. „Dann mache ich mich eben alleine auf die Suche nach Motiven. Vielleicht läuft mir dabei ja auch der eine oder andere heiße Feger vor die Linse und möchte ein wenig an meinem Objektiv drehen.“
„Du Schwein“, lachte ich und war froh, Harry aus seiner Nachdenklichkeit herausgeholt zu haben. So gefiel er mir eindeutig besser.
„Erst sexuelle Belästigung, jetzt auch noch Beleidigung. Frau Heidemann, Frau Heidemann, das schaut nicht gut für Sie aus.“
„Was gut für Aline aussieht oder nicht, entscheide immer noch ich“, erwiderte Florian, der sich von uns unbemerkt an den Türstock gelehnt hatte. „Wenn du sie weiter von der Arbeit abhältst und wir dadurch Kunden verlieren, mache ich dich persönlich dafür verantwortlich.“ Ein fettes Grinsen auf Florians Gesicht verriet mir den tatsächlichen Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Florian und Harry waren jahrelang zusammen im Außendienst tätig gewesen, bis man Florian zu meinem Chef gemacht hatte. Auch Harry hätte
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