Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
verzog sich hinter seiner Tasse zu einem fetten Grinsen, und seine Augen begannen derart zu funkeln, dass ich wusste, der finale Todesstoß war nur wenige Sekunden von mir entfernt. Zu meiner Verwunderung sagte Harry nichts. Er grinste mich einfach nur an und genehmigte sich einen weiteren Zug von seiner Zigarette.
„Und?“, fragte ich verwirrt.
„Und was?“, fragte Harry zurück und blies kleine Rauchkringel in die Luft.
„Und möchtest du nicht vielleicht irgendeinen blöden Kommentar abgeben, um mich in eine noch peinlichere Situation zu bringen?“
Harrys Lächeln erlosch innerhalb einer Sekunde, und ein Ernst trat an dessen Stelle, dass ich dachte, er würde im nächsten Moment aufstehen und mich übers Knie legen. Das irritierte mich vollkommen. Der Harry, den ich kannte, hätte sich so eine Vorlage auf keinen Fall entgehen lassen.
„Warum sollte ich einen unpassenden Kommentar über etwas abgeben, von dem ich nichts weiß und das dir offensichtlich so wichtig ist, dass du die Farbe einer Tomate annimmst?“ Bitte?
„Wer sind Sie und was haben Sie mit Herrn Steet gemacht?“, fragte ich umso erstaunter. Das war nicht Harry, der da neben mir im Stuhl lümmelte, das war eindeutig jemand anderes in einem Harrykostüm. Wenigstens sorgte mein blöder Spruch dafür, dass sich wieder Lachfältchen um seine Augen bildeten und die strenge Miene sein Sonnyboygesicht verließ.
„Weißt du, Aline, auch wenn ich gerne feiere und Weiber abschleppe, locker lebe und es voll und ganz genieße, so bin ich doch mehr als nur ein kleiner Außendienstler, dem die Frauen wegen seines Äußeren hinterherlaufen und der sich mit witzigen Sprüchen durchs Leben schlägt. Ich kann durchaus ernsthaft sein und eine Situation angemessen behandeln. In mir steckt mehr als nur ein gut aussehender Typ mit einer leichten Lebensweise. Warte, streich das gut aussehend und ersetze es durch blendend.“ Das waren für Harry zwar immer noch recht sonderbare Töne, aber die Tatsache, dass er immer noch in sich selbst verliebt war, beruhigte mich ein wenig. Ich hatte mir wirklich schon Sorgen gemacht.
„Wie kommt es, dass du so redest?“, fragte ich vorsichtig. „Du warst doch bisher immer der coole Checker, und Worte wie Ernsthaftigkeit oder angemessen kamen in deinem Repertoire gar nicht vor.“
Daraufhin zuckte Harry die Schultern und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.
„Manchmal reicht es einfach nicht mehr aus, der coole Checker zu sein.“
Erneut vernahm ich einen kritischen Unterton in seiner Stimme und fragte mich, was Harry wohl in den letzten Wochen erlebt haben musste, dass er so nachdenklich geworden war. Ich war mir nicht sicher, ob mir die Situation gefiel.
„Und wann holst du deine Kamera?“, fragte ich ihn nach dem eigentlichen Grund seiner Anwesenheit in der Stadt. Ich hatte nicht vergessen, dass er sich den Luxus einer neuen Spiegelreflex gegönnt hatte, die er bei seinem Stammhändler persönlich abholen wollte. Zudem war es eine gute Gelegenheit, unverfänglich das Thema zu wechseln.
Meine Taktik hatte Erfolg. Harrys Augen begannen zu leuchten, und er kam geradezu ins Schwärmen, als er mir von seiner neuen Canon erzählte, die er am Samstag beim Händler in der Lehnartstraße gekauft hatte. Die Qualität der Bilder sei um Klassen besser als bei seiner alten Kamera.
„Was ist denn mit deiner alten Canon?“, fragte ich und erinnerte mich noch gut an das Vorgängermodell, von dem er mir in unzähligen Telefonaten vorgeschwärmt hatte. Harry war begeisterter Hobbyfotograf und liebte es, Menschen zu fotografieren, die sich unbeobachtet fühlten. Er hatte mir bereits beim letzten Besuch vor fünf Monaten eine kleine Auswahl seiner Aufnahmen präsentiert, und ich musste zugeben, sie waren wirklich umwerfend. Er hatte einfach ein Auge für besondere Momente und legte sich gerne mal im Park oder sonst wo auf die Lauer, um aus einer sicheren Position heraus Leute ablichten zu können. Besonders gefallen hatte mir das Bild einer Braut, die von ihrem Vater in die Kirche geführt wurde und deren Gesicht voller Zweifel war. Es vibrierte nahezu vor Intensität, und man konnte die Gedanken der Braut auf diesem Foto förmlich hören, während sie sich an ihren Strauß klammernd nach ihrer Trauzeugin umdrehte und ängstlich auf ihre Unterlippe biss. „Soll ich es wirklich tun?“, schien sie sich zu fragen. „Woher weiß ich, ob er der Richtige ist?“ Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war ein Zeugnis tiefster innerer
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