Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
sich die Möglichkeit geboten, aufzusteigen, doch seine Freiheit hatte er für nichts auf der Welt aufgeben wollen. Er war einfach kein Bürotyp. Er brauchte den Asphalt unter seinen Reifen.
„Altes Haus, wie geht’s? Was macht deine Brut?“, lachte Harry und erhob sich endlich von meinem Stuhl. Da war ich dann ganz froh drum.
„Geht ihr Waschweiber mal in Ruhe eine Runde tratschen. Ich hab hier einige Telefonate vor der Brust, die sich nicht von alleine erledigen. Schuh schuh!“, scheuchte ich meinen Chef und seinen alten Kumpel aus meinem kleinen Büro.
„Ich melde mich bei dir, deine Handynummer habe ich ja!“, rief mir Harry im Gehen zu. Ach ja …
Irgendwann einmal hatte Harry aus einer meiner Kolleginnen in einem schwachen Moment meine Nummer herausgekitzelt, und seitdem klingelte er immer dann bei mir durch, wenn er mir von einem ganz besonderen Foto erzählen wollte, das er geschossen hatte. Anfangs hatte mich das etwas genervt; ich wollte unseren Kontakt lieber auf rein geschäftlicher Ebene belassen. Doch da die Anrufe nicht allzu häufig vorkamen, hatte ich meine Einwände in meine imaginäre Meckerkiste gesteckt und seitdem nicht mehr hervorgeholt. Ich war nun einmal die Einzige, mit der er sich über sein Hobby ernsthaft unterhalten konnte. Was schadete es da schon, einmal im Monat zwanzig Minuten meiner Zeit zu opfern, wenn es Harry für die restlichen dreißig Tage glücklich machte?
Hach ja, ich war wirklich eine Heilige.
Und Mutter Theresa ein Dreck dagegen.
33
Der Arbeitstag ging quälend langsam vorbei. Die Krönung war eine unangemeldete Besprechung wegen firmeninterner Arbeitssicherheitsmaßnahmen. Wissen Sie, wie öde so etwas sein konnte? Eine Stunde verschwendeter Zeit, nur damit ich danach wusste, dass man Schubladen nach Gebrauch sofort schließen sollte, denn es könnte sich sonst jemand stoßen oder darüber fallen.
Also bitte.
Das gebot einem ja schon der gesunde Menschenverstand.
Na ja, oder auch nicht. Sonst würde Manu Kreutzner jetzt nicht nach einer unangenehmen Zahnoperation mit einer dicken Backe daheim liegen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, wie man so sagte. Einer der Praktikanten hatte vergessen, nach Entnahme diverser Flyer ein Schubfach zu schließen. Manu hatte statt aufzupassen lieber mit dem süßen Copyboy geflirtet, war über die Schublade gestolpert und hatte sich eine Sekunde später der Länge nach hingelegt. Und das so was von ungünstig. Beim Fallen war sie auf der Tischkante aufgeschlagen und hatte sich den einen Schneidezahn aus- und den anderen abgebrochen. Das tat mir wirklich ehrlich leid für sie.
Aber nun ja, immerhin besser sie als ich.
Nennen sie mich ruhig herzlos.
Wäre es mir passiert, Manu hätte sicherlich das Gleiche gedacht.
Als ich von der Besprechung zurückkehrte, beschloss ich, nur noch die Ablage abzuarbeiten und dann nach Hause zu gehen. Für heute hatte ich genug erledigt, und außerdem wollte ich mich für Daron noch ein wenig in Schale werfen. Nachdem ich meine restlichen Aufgaben erledigt hatte, holte ich meine Tasche unter dem Tisch hervor und blickte aus Gewohnheit auf mein pinkfarbenes Handy. Ich staunte nicht schlecht, es hatte mich tatsächlich jemand angerufen. Als ich das Display aufklappte, sprang mir Darons Nummer entgegen. Mein Herz fing augenblicklich an, schneller zu schlagen. Ich schaute auf die Uhrzeit. Verdammt, er hatte genau in der Zeit angerufen, als ich in der Besprechung gesessen hatte. Hoffentlich hatte er auf meine Mailbox gesprochen. Mit vor Aufregung zittrigen Fingern drückte ich die Schnellwahltaste für meinen mobilen Anrufbeantworter. Die weibliche Stimme schnurrte mir entgegen: „Sie haben … eine … neue Nachricht.“
Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder Angst haben sollte. Warum hatte Daron angerufen? Aus den tiefsten Tiefen meines Unterbewusstseins schlängelte sich eine fiese Befürchtung meine Wirbelsäule entlang nach oben in mein Gehirn, die ich sofort wieder zu verdrängen versuchte.
„Hier Ihre neuen Sprachnachrichten. Empfangen … heute … vierzehn Uhr vierunddreißig.“ Ich hielt die Luft an.
„Hallo, Kleines, ich bin’s … *knarz* nicht heute *rausch* mir leid. Alan *qietsch* dich holen …“
Die Verbindung war grottenschlecht gewesen, und der Rest der Nachricht ging verloren in einem monströsen, knackenden Rauschen. Aber das realisierte ich schon kaum mehr. Ein Stich war mir ins Herz gefahren. So schmerzhaft,
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