Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
als hätte man mir tatsächlich ein Messer zwischen die Rippen gejagt. Ich musste mich setzen.
„Aline, alles in Ordnung?“, fragte mich meine Kollegin Jenny von der anderen Seite des Büros aus. „Du bist auf einmal so blass!“ Augenblicklich legte sie ihre Akten auf den Tisch, um zu mir zu eilen. Seit dem Unfall meines Vaters reagierte sie auf Anrufe, die mich erbleichen ließen, überaus empfindlich. Ich konnte es ihr nicht verdenken.
„Soll ich dir ein Glas Wasser holen?“, fragte sie besorgt, als sie neben meinen Stuhl in die Hocke ging. Ich konnte ihr die Angst vor einer Wiederholung von damals förmlich ansehen.
„Nein, es ist alles gut“, log ich, „mir ist nur gerade etwas schwindelig geworden. Bin gestern zu lange aufgeblieben. Das rächt sich jetzt, von wegen alte Frau und so, du weißt schon. Ich versuchte mich an einem Lächeln, brachte aber nur ein gequältes Grinsen hervor, das Jenny offenbar mehr erschreckte als beruhigte.
„Wirklich, alles gut“, sagte ich und tätschelte ihren Arm. „Geht schon wieder.“
Von wegen.
Er hatte abgesagt.
Er hatte unsere Verabredung abgesagt.
Immer und immer wieder spulte mein Gehirn diesen Satz ab, ohne ihn richtig zu begreifen. Manchmal ist der seelische Selbstschutz wirklich klasse.
„Na gut, aber du gehst jetzt heim“, befahl Jenny und holte meinen Mantel und Schal aus dem Schrank. Ich hatte keine Kraft mehr zu sprechen und nickte nur, während sie mir wie einer Siebzigjährigen beim Anziehen half.
Er hatte abgesagt.
Er hatte unsere Verabredung abgesagt.
Völlig neben der Spur verließ ich mein Büro und merkte erst vorm Fahrstuhl, dass ich vergessen hatte, meinen Computer herunterzufahren. Jenny würde das schon bemerken. Es war mir gerade so egal.
Wie in Trance fuhr ich ins Erdgeschoss und hörte auch nicht mehr, wie sich die Empfangsdamen von mir verabschiedeten. Ich trat hinaus in den strömenden Regen und spannte meinen kleinen, pinkfarbenen Schirm zwei Sekunden zu langsam auf, sodass ich eine gute Portion Nass abbekam. Ich spürte es kaum.
Er hatte abgesagt.
Er hatte unsere Verabredung abgesagt.
Ich konnte es einfach nicht fassen. Die Kälte des Novembernachmittags wirkte geradezu warm gegen die Kälte, die sich in meinem Herzen breitmachte und es von innen überzog wie eine dicke Eisschicht. Mit jedem Schlag fror es ein Stück weiter zu. Ich war so benebelt, dass ich beinahe bei Rot über die Straße gelaufen wäre, doch Gott sei Dank merkte ich noch rechtzeitig genug, dass die Autos anfuhren. Das hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Als endlich das grüne Männchen auf der Ampel erschien, ging ich mit bleischweren Füßen hinüber zu meiner Bushaltestelle.
Warum hatte er abgesagt?
Wollte er etwa mit mir Schluss machen?
Und warum verdammt noch mal war die Verbindung so schlecht gewesen?
Ich erkannte entsetzt, dass ich nun genau da angekommen war, wo ich nie hinkommen wollte. Absoluter Kontrollverlust.
Was für eine Scheiße.
Mensch, Aline, reiß dich zusammen, schalt ich mich und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Es gibt bestimmt eine ganz simple Erklärung für seinen Anruf. Er macht garantiert nicht Schluss mit dir. Er hat dich doch gestern sogar noch gefragt, ob du ihn – ja, was eigentlich? – heiraten willst. Er ist immerhin der Tod, und man sollte doch annehmen, dass der bei der Wahl seiner Lebensabschnittsgefährtin keine Mätzchen macht. Andererseits gab es da auch noch Mael, und wie dessen Einstellung zu Partnerschaften aussah, wusste ich aus erster Hand nur zu gut.
Ich zerfleischte mich innerlich förmlich mit Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Ich hatte so eine Scheißangst, Daron wolle mich abservieren, das ich nicht mal mehr geradeaus denken konnte. Immer und immer schneller drehte sich meine innere Katze im Kreis und hatte sich ihren Schwanz bereits blutig gebissen. Als sich weitere Fahrgäste zu mir an die Haltestelle gesellten, musste ich mich wegdrehen, weil ich dachte, mein Kummer stünde mir wie in Neonbuchstaben auf die Stirn gepinselt. Bescheuert, ich weiß, aber seit wann sind Gefühle schon rational?
Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick in den Park auf meinen Baum. Meine Pappel, wie sie dort stand und Wind und Wetter trotzte. Nicht nur ein Baum, wie mir schlagartig einfiel.
Ein Baum mit einer Seele.
Der Seele von Darons Mutter.
Noch bevor ich registrierte, was ich tat, hatte ich wieder meinen Schirm aufgespannt und hastete eilig den geteerten Weg hinab, direkt auf die Pappel
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