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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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Untersuchungshaft
Däumchendrehen? Was für eine Scheiße!“
„Lass mich gehen.“ Hagen blickte den Kollegen an.
Hagen sah aus wie ein Wolf. Er musste vorsichtig sein.
„Es soll nicht zu deinem Nachteil sein.“ Hagens Stimme war leise und scharf.
„Wir sagen einfach, ich war nicht da, als du gekommen bist.“
Hagens Stimme drang jetzt schmeichelnd zu ihm vor: „Ich kann etwas für dich tun
in den nächsten Jahren, verstehst du? Dich lassen sie doch auch nicht hoch in
dem Saftladen.“
Beide zuckten sie zusammen, als im Flur ein Poltern zu hören war.
„Wenn du nicht kooperierst, muss ich das melden“, sagte er zu Hagen mit versteinertem
Gesicht. „Dann muss ich Verstärkung anfordern.“
Er zog das Handy heraus.
Hagen warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Lass den Scheiß. Ich komm ja. Wo
hast du geparkt?“
„Gleich vor der Tür.“
Er zeigte in Richtung Calvinstraße. Er musste vorsichtig sein. Er schwitzte
jetzt so stark, dass ihm das T-Shirt auf der Haut klebte.
„Wenn du dich beeilst, ersparst du dir ein Zusammentreffen mit Reichenbaum und
Co.“
„Die sollen ruhig kommen.“ Hagen ging auf die Toilette und ließ sich Zeit, als
wollte er damit zeigen, dass er keine Angst hatte. Doch danach beeilte er sich,
seine Sachen zu packen. Die Vorstellung, Thilmanns mitfühlendem Blick zu
begegnen, der ihm den Glauben an seine Unschuld versichern sollte, war ihm unerträglich.

49
    Reichenbaum stand auf dem Balkon und starrte vor sich hin.
Der Hauptkommissar, der es gewohnt war, seinen Blick weit über den Lietzensee
schweifen zu lassen, fand es beklemmend, den Nachbarn direkt ins Wohnzimmer sehen
zu müssen. Unruhig drückte seine Hand die Zigarettenschachtel in seiner
Hosentasche. Er hatte das Rauchen vor zwei Monaten aufgehört und das Gefühl,
jederzeit eine rauchen zu können, half ihm dabei.
Er erinnerte sich gern an den Tag, an dem er aufgehört hatte. Es war ein
Sonntag gewesen, es war Frühling, überall waren Osterglocken. Er war mit seiner
Tochter auf die Pfaueninsel gefahren. Es war einer dieser Tage gewesen, die man
nicht planen konnten, sie fielen einem als Geschenk zu. Er hatte das zuletzt
vor über fünfzehn Jahren erlebt, schwebende Stunden der Sorglosigkeit. Seine
Tochter hatte ihre kleine Hand in seine geschoben, sie hatte den ganzen Tag
kein einziges Mal nach ihrer Mutter gefragt. Er hatte ihr die Bäume und Vögel
erklärt, sie hatten in einem Restaurant Bouletten gegessen und im Bus hatte sie
ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. In diesem Moment hatte er beschlossen,
das Rauchen aufzugeben.
Die Wohnung gegenüber war geschmackvoll eingerichtet, einfach und modern,
ähnlich wie die Wohnung darunter auch.
Er nahm die Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche und prüfte, wie viele
noch drin waren. Seit zwei Stunden waren sie jetzt in Hagens Wohnung. Zuerst
hatten sie nichts gefunden, doch dann hatte Reichenbaum die Schreibtischschublade
geöffnet. Der rote Stick war ihm sofort aufgefallen. Es war das gleiche Rot wie
die Botschaften des Mörders. War das Zufall? Als sie den Inhalt des Sticks
sahen, konnten sie es nicht glauben. Selbst Rebecca hatte nichts mehr gesagt.
Es war unerträglich, Margot beim Sterben zusehen zu müssen.
Sein Magen krampfte sich, als müsse er sich übergeben.
Es waren mehrere Filmsequenzen. Es waren immer wieder dieselben Szenen, aufgenommen
im Abstand von dreißig Minuten. „Bekennst du dich für schuldig?“, fragte eine
verzerrte Stimme aus dem Off. Am Anfang fragten die Frauen noch: „Für was?“
Oder: „Was soll das?“ Oder: „Ich verstehe nicht.“ Am Ende, als sie kaum noch
sprechen konnten, sagten sie: „Ja.“
Nur Margot hatte das Spiel nicht mitgespielt. Nach vier Stunden blickte sie nur
noch stumm und verächtlich in die Kamera, ihre Lippen waren blau, sie bekam
kaum noch Luft. Sie flüsterte etwas, das nicht zu verstehen gewesen war. Der
Techniker meinte, vielleicht könne er es auf dem anderen Computer
herausarbeiten.
Margot so zu sehen, ihre schwarze Augen, die einen direkt anblickten, war
unerträglich. Es wunderte ihn nur, dass der Balkon, auf dem er stand, nicht
jeden Moment herunter brach, dass die Leute auf der Straße nicht schreiend
aufeinander losgingen. Das wäre ihm normal vorgekommen in einer Welt, in der so
etwas möglich war.
Reichenbaum zündete sich eine Zigarette an.
Warum hatte Hagen den Stick dagelassen? Wollte er, dass sie es wissen? Dass sie
es sehen? Der Gedanke, dass jemand Hagen reinlegen wollte, arbeitete

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