Auserwaehlt
Clara erinnerte sich plötzlich, wie sie
früher aus dünnen Strohhalmen gelbes Sinalco aus der Flasche getrunken hatten.
Ein jüngeres Kind mit pummeligen Beinen folgte den beiden älteren, es lief hin
und her und versuchte, den Ball zu fassen. Es kreischte jedes Mal, wenn es
nicht gelang. In dem Hof lag ein Wasserschlauch. Clara hatte es kommen sehen:
Das kleine Kind stolperte darüber und begann zu schreien, als wäre es aus einem
Albtraum erwacht. Clara konnte sogar die Tränen, die unter den langen Wimpern
hervorquollen, aus der Entfernung erkennen. „Das da!“, kreischte es, als die
Frau es auf den Arm nahm. Die Frau gab ihm das Handy. Sofort flog ein Lachen
über das kleine Gesicht, während die Tränen noch immer flossen.
„Was ist mit dem Therapeuten, diesem Horst Ludwig?“ hörte sie Kranich, die die
Szene ebenfalls beobachtet hatte.
„Herbert Ludwig“, korrigierte Paschke. „Er hat sich vorhin bei uns gemeldet,
unaufgefordert. Er sei das ganze Wochenende auf einem Kongress in München,
meinte er. Er zeigte sich tief schockiert über den Tod seiner Patientin und bot
an, falls es dringend sei, telefonisch Auskunft zu geben. Ab Montag sei er dann
wieder in Leipzig.“
Kranich nickte. „Angenommen, Helga Kramer litt wirklich unter einer beginnenden
Paranoia ...“
Clara schüttelte den Kopf. „In der Wohnung von Helga Kramer konnte ich keine
Anzeichen erkennen. Weder waren Sicherheitsschlösser angebracht, Türen
verrammelt, noch die Fenster abgeklebt. Nirgends eine Kamera. Es gab nichts,
keine Bücher, Bilder oder sonst etwas, das Helga Kramer als Anhängerin irgendeiner
Verschwörungstheorie oder radikalen Lebenshilfsorganisation ausgewiesen hätte.“
Das Kind warf das Handy auf den Beton, die Frau schrie das Kind an, das Kind
heulte wieder. Die Frau war höchstens Mitte zwanzig, schätzte Clara und fragte
sich, ob die beiden älteren Kinder auch von ihr sein konnten.
„Helga Kramer mag eine Künstlerin gewesen sein“, fuhr Clara fort, „doch sie
schien mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. Alles, was ich bisher gesehen
habe, weist auf eine stabile Persönlichkeit hin. Ich habe viel eher das Gefühl,
dass Christine Berger ein schlechtes Gewissen hat, nicht genug getan zu haben,
um den Tod der Freundin zu verhindern ... der Klassiker eben ... deshalb sucht
sie jetzt nach Argumenten, um sich zu entlasten.“
„Ich sagte doch nur, angenommen.“ Kranich warf Clara einen beruhigenden Blick
zu.
Sie weiß es , dachte Clara und senkte den Blick. Ich verteidige immer
noch Maria.
„Angenommen“, fing Kranich wieder an, „die Frau litt wirklich unter Paranoia,
dann hat das unser Täter zumindest ausgenutzt, um ihr zusätzlich Angst zu
machen.“
„Das mit den roten Zetteln gefällt mir auch nicht“, bestätigte Paschke und
richtete seinen zähen Körper auf. Er lächelte Clara schüchtern zu, doch als sie
sein Lächeln erwiderte, blickte er weg, als habe er bereits zu viel gewagt.
„Was haltet ihr von dem Kind?“ Kranich klappte den Rest ihres Brötchens auseinander
und prüfte eine blasse Tomate. „Ich hab mal gelesen, dass 47 Prozent der Kinder
in der DDR unehelich waren.“
„47 Prozent?“ Paschke blieb der Mund offen stehen.
Kranich biss in das Brötchen und sprach kauend weiter. „Auf jeden Fall waren es
viele.“
„47 Prozent ist definitiv zu hoch.“ Er wischte sich den Mund ab.
„Die Berger schützt jemand“, sagte Clara überzeugt.
„Ich tippe auf Norbert Lechmeier“, nickte Kranich.
„Eifersucht“, sagte Paschke und faltete sorgfältig seine Papierserviette zusammen,
„Eifersucht gab es auch in der DDR. Definitiv.“
8
Zehn Kilometer südlich vom Stadtzentrum Leipzig lag das
Internat Schloss Knauthain. Ein Pförtner in Uniform ließ sie passieren. Paschke
steuerte den Wagen im Schritttempo auf das Gebäude zu, das schlichter war, als
Clara erwartet hatte. Die helle Fassade und die klaren Formen erinnerten mehr
an ein Kloster als an ein Schloss. Nur der riesige Park im englischen Stil, der
sich rechts und links von ihnen erstreckte, hatte etwas Romantisches. Es
knirschte, als Paschke das Auto auf dem hellen Kies zum Stehen brachte.
Sie nahmen die Freitreppe hoch zum Haupteingang, die klassisch und würdevoll,
aber ebenso schnörkellos wie das ganze Gebäude war. Ihre Schritte hallten in
der Eingangshalle, leises Klavierspiel drang aus einer der Türen, eine Geige
wurde gestimmt. Jugendliche in weißen, ärmellosen Shirts und kurzen, blauen
Hosen drängten an ihnen
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