Auserwaehlt
vorbei ins Freie.
„Kriminalhauptkommissar Margot Kranich“, stellte sich Kranich vor und gab der
Direktorin die Hand. „Das ist meine Kollegin Doktor Schwarzenbach.“
Erika Lechmeier musterte beide kurz, dann senkte sie den Blick. „Wir stehen
noch alle unter Schock.“
Der massige Körper der Direktorin wurde von einem braunen Sackkleid bedeckt,
nur der Kopf, Unterarme und Waden ragten heraus. Mühsam bewegte sie sich auf
die gegenüberliegende Tür zu, sie ging leicht gekrümmt und reckte den Hals nach
vorne.
Sieht aus wie eine Schildkröte. Clara bedankte sich, als die Direktorin die Tür aufhielt und ihre kurzen,
weißen Arm nach vorne streckte. „Bitte, treten Sie ein.“
Antike Möbel standen neben modernen Designerstücken, an den Wänden hingen ein
paar Gemälde, doch den meisten Platz nahmen gerahmte Urkunden und Fotos ein,
die die Erfolgsgeschichte der Eliteschule bebilderten. Clara blieb vor den
gerahmten Kinderporträts stehen.
„Ein Vorfall“, hörte sie die Direktorin an Kranich gewandt. „Ich wollte nur
einen Topf aus der Schublade holen, bücke mich und da fährt es mir auch schon
rein. Das war ein Schmerz, sage ich Ihnen, als stieße einem jemand ein Messer
in den Rücken, ach was, guillotiniert trifft es eher!“ Mühsam hievte sie sich
auf den gepolsterten Chefsessel hinter dem breiten Holzschreibtisch.
„Furchtbar. Das hatte ich zuletzt vor zehn Jahren, seitdem war es gut, und
jetzt das! Hätte ich den verfluchten Topf bloß stehen lassen!“
Kranich und Clara setzten sich der Direktorin gegenüber.
„Das kenne ich“, log Clara, schlug ihre Beine übereinander und zog das rote
Kleid über die Knie nach unten. „Wann ist es denn passiert?“
Sich nur für ein paar Minuten der Illusion hingeben, es sei alles wie immer.
Oft war das der Grund, warum manche Menschen eingangs über etwas ganz anderes
sprachen als über den Tod, der sie erwartete. Zum Beispiel über eine
Verletzung, die sie sich zugezogen hatten, wie Frau Lechmeier eben. Manchmal
steckte jedoch auch etwas anderes dahinter.
„Gestern Abend“, antwortete die Lechmeier ausweichend. „Das mit Helga ist
schrecklich“, fügte sie jetzt hinzu. „Ein Verlust für das Konservatorium.“
Sie sah auf ihre Hände. „Und für mich persönlich.“
Clara nickte. Letzten Januar hatten sie einen Fall in Wilmersdorf, da hatte ein
Mann seine Frau erstochen aufgefunden. Er öffnete der Kriminalpolizei die Tür
mit Stichverletzungen an den Händen und erklärte ungefragt, wie er sie sich
zugezogen hatte – er wollte einen Rinderbraten filetieren, den er extra für
seine Frau zubereitet habe. Seine umständliche Erklärung war der hilflose
Versuch, davon abzulenken; natürlich hatte er sie umgebracht. Bis heute roch
Clara den Braten, der sich tatsächlich im Ofen befand.
Die Direktorin hatte kleine, braune Knopfaugen. Ihr Blick war leer, ihr Mund
neutral, doch aufgrund des Faltenwurfs erhielt ihr Gesicht einen permanent
freundlichen Ausdruck.
Sie hat sogar das Gesicht einer Schildkröte. „Stimmt es, dass Helga in einem Park überfallen wurde?“, fragte sie. „Ist
das nicht furchtbar?“
„Ja“, bestätigte Kranich. „Aber wir ermitteln noch.“
„Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen ...“
„Nur ein paar Fragen.“ Kranich reichte der Direktorin ein Foto der Leiche.
„Ich kann das nicht“, erklärte sie und blickte weg.
„Frau Lechmeier“, sagte Kranich. „War Helga Kramer eine beliebte Lehrerin? Wie
war ihr Verhältnis zu den Kollegen? Gibt es jemanden an der Schule, der mit ihr
Streit hatte oder ...“
„Sie meinen doch nicht etwa, dass jemand vom Internat ...?“
„Reine Routine.“
„Stört es Sie, wenn wir das Gespräch aufzeichnen?“, fragte Clara.
Die Direktorin versuchte, eine bequemere Sitzposition zu finden. „Bitte, machen
Sie nur.“
„Wir möchten einfach mehr über das Mordopfer erfahren“, begann Kranich erneut.
„Was war Helga Kramer für ein Mensch? Ist Ihnen in letzter Zeit in ihrem
Verhalten etwas aufgefallen? Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“
Die Augen der Direktorin verrieten nichts.
„Trotz allem“, sie wackelte mit dem Kopf, „kann ich sagen, dass Helga eine gute
Lehrerin war.“
„Trotz allem?“
„Helga war“, sagte sie und suchte erneut eine andere Sitzposition. „Sie haben
wahrscheinlich noch nie etwas von ihr gehört, weil sie im Westen aufgewachsen
sind, denn in der DDR galt Helga in den 60ern als Wunderkind.“ Sie deutete auf
die Fotoreihe mit den Kinderporträts. „Sie
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