Auserwaehlt
lernen die Kinder so, dass es keine realitätsfernen Rückzugsort gibt,
keine Paradiese, in die sie flüchten könnten. Selbst am Ort der Erholung muss
der Geist der Erziehung präsent sein.“
„Ein bemerkenswertes Konzept.“ Kranich wandte sich ab. Sie hielt den Blick des
Jungen nicht mehr aus. „War das Ihre Idee?“
Die Direktorin antwortet nicht. Ihr war die Ironie in Kranichs Stimme nicht
entgangen.
„Frau Lechmeier?“
Die Direktorin blickte zu Clara. „Ja?“
„Wie hat eigentlich die Tochter von Helga Kramer, Charlotte, damals den Unfalltod
ihres Vaters aufgenommen?“
Erika Lechmeier schwieg.
„Wir wissen, dass Ihr Mann der Vater von Charlotte Kramer ist“, schaltete sich
Kranich ein.
Die Direktorin blinzelte nicht einmal. Auf dem Schreibtisch lag noch immer das
Foto der Toten. Jetzt nahm sie es in die Hand. Clara meinte, Bedauern in ihren
Augen zu lesen.
„Sehen Sie.“ Die Direktorin deutete auf den Hals der Toten. „Diese Kette, eine
silberne Geige, hat Helga damals beim Internationalen Tschaikowski-Wettbewerb
gewonnen. Das war eine der höchsten Auszeichnungen, die das Land zu vergeben
hatte.“
Dann sagte sie: „Helga war damals zwölf. Glück hat sie ihr nicht gebracht.“
Sie legte das Foto wieder weg.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
Kranich nickte.
„Frau Lechmeier.“ Etwas funkelte in Kranichs Augen. „Hatte Helga Kramer Feinde
auf Schloss Knauthain?“
Die Direktorin sah freundlich aus, als sie erklärte: „Helga war bei allen
beliebt. Im Übrigen lebte sie eher zurückgezogen, die Musik, die Arbeit mit den
Schülern, das war ihr Ding. Helga war eine gute Lehrerin.“
Kranich ließ es gut sein. Ihre Zeit war für heute abgelaufen. Für jedes Gespräch
hatte man nur eine gewisse Zeit zur Verfügung, manchmal waren es fünf Minuten,
manchmal zehn, manchmal eine halbe Stunde. Danach wiederholte sich alles.
9
Erika und Norbert Lechmeier wohnten im Bachviertel in der
äußersten Westvorstadt von Leipzig, einem gutbürgerlichen, gründerzeitlich
geprägten Viertel. Natürlich, sagte Paschke, bevor er sich wieder an die Arbeit
machte. Die Befragung der Schüler und Lehrer auf Schloss Knauthain dauerte
länger, als angenommen, sodass Kranich und Clara ohne ihn aufbrachen.
„Schön ist es hier“, hörte sie Margot.
Das Taxi hielt an einer Kreuzung. Clara blickte aus dem Fenster.
Dein Mann hat ein Kind mit einer anderen. Wie fühlt sich das an? Erika Lechmeier hatte sich nichts anmerken lassen. Die Psycho-Physiognomik
ging davon aus, dass die Seele eines Menschen seinen Gesichtsausdruck prägte;
demnach müsste die Direktorin naiv, harmlos und freundlich sein.
Vielleicht war sie es ja. Vielleicht war es ihr tatsächlich egal, solange
die beiden nichts mehr zusammenhatten. „Auch die letzten Tage schon?“ Kranich sprach mit dem Taxifahrer über das
Wetter.
Wenn man ein Kind zusammen hat, hat man immer etwas zusammen. „Auf jeden Fall.“ Ein echtes Bilderbuchwetter sei es gewesen, sagte der Taxifahrer.
Wenn David keine Tochter gehabt hätte, vielleicht hätten sie dann auch eine
Chance gehabt. Clara blickte aus dem Fenster. Das Taxi war wieder angefahren, sie fuhren
an einer Parkanlage entlang, eine Fontäne erhob sich in einem See, dahinter ragte
ein Kirchturm empor. Das Bachviertel, meinte Paschke, sei fast vollständig von
solchen Grünanlagen eingefasst, er erwähnte den Palmengarten, einen
Richard-Wagner-Hain und den Johannapark. Die anderen Namen hatte Clara
vergessen.
„Wahrscheinlich war es doch ein Raubmord“, hörte sie Kranich plötzlich. „Sonst
hätten die sie ja auch hier umbringen können. An Grünanlagen mangelt es hier
auf jeden Fall nicht.“
Der Taxifahrer setzte sich auf, um besser zu hören.
„Ich befürchte, wir verschwenden hier nur unsere Zeit“, sagte Kranich.
Clara starrte auf eine große, grüne Wiese. Eine Frau sonnte sich oben ohne, ein
Pärchen knutschte.
„Außer“, sprach Kranich weiter. „Außer man hat sie uns untergeschoben, um von
Leipzig abzulenken.“
„Ja?“
Das gepflegte Gesicht eines älteren Herrn erschien in der Tür. Er trug ein
blaues Hemd zu einer grauen Anzughose, der schmale, schwarze Ledergürtel sah
hochwertig aus.
„Kriminalhauptkommissarin Margot Kranich“, sagte Kranich und hielt ihren
Ausweis nach oben. „Das ist meine Kollegin Doktor Schwarzenbach. Dürfen wir
reinkommen?“
Er nickte. „Ich bin bereits informiert. Das ist fürchterlich.“
Fürchterlich , dachte Clara. Das Wort hat seine Frau auch
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