Auserwaehlt
spielte bei Staatsempfängen, im Fernsehen,
in Konzertsälen. Damals war sie noch keine zehn Jahre alt.“
Dann blickte sie zum Fenster hinaus. „Ihr Vater war Klavierlehrer.“
Clara und Kranich schwiegen. Der Blick zum Fenster war meist der Auftakt für
eine längere Erzählung und sie wollten Erika Lechmeier nicht davon abhalten.
„Eigentlich sind mir solche Biografien nicht besonders lieb“, fing sie an.
„Also als Lehrer, meine ich. Fast alle Wunderkinder bleiben auf der Stufe ihres
größten Erfolgs stehen, was ihre geistige Entwicklung betrifft, meine ich. Das
Erlebnis des frühen Ruhms ist meist so prägend, dass sie zeit ihres Lebens
nicht darüber hinwegkommen.“ Sie zuckte bedauernd mit den Achseln. „Das
Geschäft mit der Begabung ist leider knallhart. Ich brauche hier Leute, die
keinen falschen Vorstellungen hinterherlaufen. Schätzen sie doch mal, wie viele
unserer Schüler später im Licht der Öffentlichkeit stehen?“
„Als Künstler“, fügte sie amüsiert hinzu.
„Eins Komma Sechs Prozent“, sprach sie, als halte sie diesen Vortrag nicht zum
ersten Mal. „Das heißt, wir müssen die Talente unserer Schüler fördern und sie
zugleich auf eine Realität vorbereiten, in der sie bestehen können – und zwar
als zukünftige Elite unseres Landes. Da kann ich keine naive Wunderkind-Gläubigkeit
gebrauchen.“
Clara nickte. „Das kann ich verstehen. Und Frau Kramer war solch eine Gläubige?“
„Zumindest anfangs.“ Die Direktorin verlagerte ihr Gewicht auf die Arme.
„Wissen Sie, Helga, also sie war durch und durch ein romantischer Charakter.
Sie wollte glauben, sie wollte ein Wunder und sie suchte das Besondere.
Doch wenn sie dann merkte, dass nicht alles Gold war, was glänzte, war sie immerhin
fähig, ihr Bild der Realität anzupassen. Diese Fähigkeit half ihr auch als
Lehrerin.“ Sie faltete ihre Hände ineinander. „Wie gesagt, sie war eine gute
Lehrerin.“
Die Direktorin verharrte stumm. Ihre Gesprächigkeit hatte ein jähes Ende gefunden.
„Frau Lechmeier“, räusperte sich Clara. „Jemand hat Helga Kramer verfolgt.
Jemand ist bei ihr eingebrochen, jemand hat ihr Botschaften zukommen lassen. Haben
Sie davon gehört?“
Ihr Gesicht zeigte keine Regung.
„Wahrscheinlich wissen Sie schon“, sagte Erika Lechmeier schließlich und
blickte zu den Kinderporträts an der Wand, „dass Helga in psychotherapeutischer
Behandlung war. Nun, solange das ihre schulischen Leistungen nicht
beeinträchtigte, ging mich das nichts an.“ Sie nickte sich selbst zu. „Um ihre
Frage zu beantworten: Ja, ich habe davon gehört, aber ich kann mir einfach
nicht vorstellen, dass es wirklich ... so schlimm war. Manchmal ist es schwer,
zwischen Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden und wie gesagt“, jetzt lächelte
sie Clara an: „Helga war ein romantischer Charakter.“
„Ein romantischer Charakter“, wiederholte Clara.
Kranich setzte sich auf.
„Sie sagten gerade“, die Hauptkommissarin räusperte sich, „dass nur Eins Komma
Sechs Prozent ihrer Schüler später berühmt werden. Das ist nicht gerade viel,
wenn Sie mich fragen. Da sind doch Leute wie Frau Kramer kaum fähig, echte
Begabung zu erkennen? Da hat sie doch sicher eine Menge Kritik einstecken
müssen.“
Die Direktorin musterte Kranich, ohne dass sich ihr freundlicher Gesichtsausdruck
verändert hätte.
„Berühmt und erfolgreich sind zweierlei“, sagte sie. „Aber unsere Auswahlkommission
arbeitet einwandfrei, falls sie das meinen. Helga Kramer stand dem musischen
Bereich vor. Wir haben gerade eine harte Woche hinter uns, die
Aufnahmeprüfungen fürs nächste Schuljahr sind abgeschlossen, die Vorträge
fanden alle noch gestern statt, bevor Helga ...“
Sie nahm einen Schluck Wasser. „Wir haben harte Aufnahmekriterien, die härtesten
ganz Europas übrigens, daher bekommen wir europaweit auch die besten Schüler.“
Erika Lechmeier warf Kranich einen kurzen Blick zu. „Eins Komma Sechs Prozent
ist keine Frage der Begabung, sondern, wie soll ich sagen, eine gesellschaftsökonomische.“
„Eins Komma Sechs Prozent?“ fing Kranich erneut an. „Und dafür der ganze
Aufwand?“
„Sie müssen größer denken.“ Die Direktorin blickte durch sie hindurch. „Eins
Komma Sechs Prozent sind nur die Spitze eines Eisbergs, der sichtbare Teil. Das
Fundament arbeitet ohne das Getöse des öffentlichen Interesses, es ist die
geistige Elite unseres Landes, die wir ausbilden, Naturwissenschaftler,
Manager, die Führungskräfte von
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