Auserwaehlt
gebraucht .
Er führte die Frauen durch einen Flur in einen hellen Eingangsbereich, in dem
außer einer weißen Vase nichts stand. Es gab keine Bilder, keine Blumen, selbst
in der Vase war nichts. „Immer weiter“, sagte er. Die Knochen seines Schädels
zeichneten sich unter der Haut ab. Er war fast kahl.
Ein L-förmiger Wohn- und Essbereich öffnete sich. In dem kleinen Schenkel des
L's war eine offene Küche untergebracht, auch hier war alles hell und modern.
„Setzen Sie sich doch“, sagte Norbert Lechmeier und wies auf die hellen Lederstühle.
„Kaffee?“
„Gerne schwarz“, nickte Kranich und nahm Platz.
„Für mich nicht. Danke.“ Clara blieb an der geöffneten Balkontür stehen und
beobachtete, wie der Mann gekonnt mit der Kaffeemaschine hantierte. Er begann,
Milch aufzuschäumen.
Clara spähte zum Garten hinaus. Anders als die Inneneinrichtung wirkte der
Baumbestand alt.
Erschrocken fuhr Clara herum.
Eine Tasse war auf die Fliesen gefallen. Norbert Lechmeier hob entschuldigend
die Hände, sammelte die braunen Scherben ein und wischte alles weg. Dann holte
er eine neue Tasse aus dem Schrank, stellte sie unter die Maschine, öffnete
solange eine Schublade und legte Untersetzer auf den Glastisch. Darauf
platzierte er drei Wassergläser.
„Moment.“ Nachdem er den Kaffee, Zucker, Servietten und zwei Flaschen Mineralwasser
auf dem Tisch arrangiert hatte, schenkte er das Wasser ein. Dann setzte er sich
endlich.
„Sie brauchen sicher meinen Ausweis? Ich ...“
„Das hat Zeit.“ Kranich bedeutete ihm, sitzen zu bleiben.
Norbert Lechmeier wäre am liebsten davongelaufen.
Kranich schob ein Foto über den Tisch.
„Kennen Sie diese Frau?“
Auf seiner Glatze hatte sich ein Film gebildet. Es waren Schweißperlen, die zu
den Schläfen hin immer kleiner wurden.
„Helga“, murmelte er. „Mein Gott, das ist wirklich Helga.“
„Sie wurde heute Morgen im Stadtpark Steglitz gefunden“, nickte Kranich und
beeilte sich, hinzuzufügen: „Mehr wissen wir noch nicht. In welcher Beziehung
stehen Sie zu Frau Kramer?“
„Sie ist, mein Gott, sie war ...“ Er sah sich panisch um.
„Sie war meine Kollegin am Internat Schloss Knauthain“, sagte er und senkte den
Kopf. „Wir haben zusammen studiert, damals in Chemnitz, als es noch Karl-Marx-Stadt
hieß.“ Er blickte auf seine Hose. „Das war vor über vierzig Jahren, solange
kenne ich Helga schon.“
„Ist das nicht absurd?“ Er sah jetzt zu Clara hinüber. Oder meinte er den Garten?
„Plötzlich sind vierzig Jahre vorbei und das Leben ...“
„Ein Wimpernschlag“, verwundert schüttelte er den Kopf. „Es stimmt tatsächlich.
All die Jahre und es kommt mir vor wie gestern. Es würde mich nicht wundern,
wenn ich morgen in dem kleinen, zwei mal fünf Meter großem Zimmer aufwachte, in
dem ich damals gelebt habe, die Tür geht auf und Helga kommt herein mit ihren
lachenden, traurigen Augen.“
Hat er sie geliebt? Clara räusperte sich.
„Das soll jetzt alles gewesen sein?“ Lechmeiers Unterlippe war feucht. Fasziniert
beobachtete Clara, wie seine Zunge immer wieder blitzschnell hervorstieß, als
könne er über diesen mit Schleimhaut überzogenen Muskelkörper Informationen
aufnehmen.
„Nach dem Studium haben wir uns eine Zeit lang aus den Augen verloren, doch der
Kontakt brach nie ganz ab. Als sie dann nach der Wende ins Schloss Knauthain
kam, war das ein Gewinn für uns alle.“
Clara ließ ihn nicht aus den Augen. Für uns alle?
„Wir haben so viel zusammen durchgemacht, so viele Nächte, Prüfungen, Feste,
mein Gott, die ganze DDR, können Sie sich das vorstellen?“
Kranich nickte.
Clara blickte hinaus. Sie sah die Direktorin abends an dem kleinen Teich stehen,
der im Garten angelegt war, und mit einem Kescher Blätter entfernen, eines nach
dem anderen.
Ein Gewinn für uns alle ... Es war seltsam, aber fast immer, wenn sie im
Umkreis eines Mordopfers ermittelten, sprach jemand im Namen von „uns allen“
anstatt von sich selbst. Damit provozierte er – anders als beabsichtigt – genau
die Frage, die er zu verdrängen hoffte. In diesem Fall hieß sie: Hatten Norbert
und Helga also doch noch eine Affäre am Laufen gehabt?
Er liebt sie noch immer. „Ich kann das einfach nicht glauben, dass es das jetzt gewesen sein soll.“
Clara ließ ihren Blick über die hell getünchten Wände gleiten. Es gab keine
Fotos, keine Kinder, nichts Persönliches. Doch etwas war erst kürzlich verändert
worden.
„Sie sind mit Helga Kramer manchmal nach Berlin
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