Auserwaehlt
Morgen.“
Sie drehte beide Handflächen nach oben. „Disziplin und Ehrgeiz sind die
Grundlagen jeden Erfolges. Die Kinder müssen gerade heutzutage lernen, wo das
alles herkommt, sie müssen, wie wir alle, einen Teil der Leistung beisteuern,
sonst können wir nicht bestehen im internationalen Wettbewerb.“
„So haben mich meine Eltern auch erzogen“, sagte Clara und ignorierte den
amüsierten Seitenblick von Kranich. „Aber noch mal zu gestern Abend. Schildern
Sie doch mal genau, wie und wann Frau Kramer die Schule verlassen hat.“
Sie nickte.
„Um 16 Uhr 45 war der letzte Vortrag angesetzt“, überlegte sie. „Das heißt,
kurz nach fünf waren wir fertig. Ich bin dann in mein Büro. So gegen 17 Uhr 30
hat mein Mann Helga noch zum Bahnhof gebracht.“
„Ihr Mann?“
„Mein Mann Norbert Lechmeier. Ja.“
„Er hat Helga Kramer zum Bahnhof gebracht?“
„Ja.“ Die kleinen, dicken Finger der Direktorin griffen nach der Maus, die auf
dem Schreibtisch lag. Ihr Blick richtete sich auf den Bildschirm des Computers.
„Was hat ihr Mann danach gemacht? Haben Sie zusammen den Abend verbracht?“
„Nein. Norbert war noch bei einem Vortrag, ich war zu Hause.“
„Waren sie allein zu Hause?“
„Was wollen Sie damit sagen?“ Erika Lechmeier Gesicht versteinerte. „Natürlich.“
„Was für ein Verhältnis hatte Ihr Mann zu Helga Kramer?“, fragte Kranich.
Die Direktorin erhob sich. Vom Park drangen die regelmäßigen Schläge eines
Tennisplatzes herauf. Langsam bewegte sich die Frau zum Fenster. Sie blickte
hinab.
„Stimmt es, dass die beiden eine Affäre hatten?“
Als sie sich umdrehte, lächelte sie wieder. „Wer sagt das?“
„Das ist Blödsinn“, fuhr Erika Lechmeier fort, ohne die Antwort abzuwarten. Sie
stützte sich auf das breite Sims. Plötzlich wirkte sie müde. „Norbert und Helga
kennen sich schon ewig, genauso lange, wie ich Helga kenne. Wir haben zusammen
studiert, wir haben zusammengewohnt, es gab da mal eine Liebelei, doch mehr ist
daraus nicht geworden.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Später hat uns Helga
dann nur noch leidgetan, das war alles.“
„Leidgetan?“ Kranichs Gesichtsmuskeln spannten sich an.
„Wegen Gregor. Er war wie Helga Musiker, ein Pianist, das geht selten gut.
Anfangs sind die beiden noch zusammen aufgetreten, später hat Helga ihn dann
mit ihrem Lehrergehalt durchgebracht, sie hat ja schon früher als Lehrerin
gearbeitet, in Chemnitz schon. Gregor hat sich in die Rolle des Rebellen
geflüchtet, nachdem er keinen Erfolg hatte, er trank und war eine Last für uns
alle. Nach der Wende trank er dann noch mehr, vermutlich nahm er auch Drogen,
und dann hatte er ja den Unfall, ein Herzinfarkt am Steuer. Es war das Beste
so, aber Helga hat sich ewig Vorwürfe gemacht.“
„Herzinfarkt?“ Kranich ging ebenfalls auf das Fenster zu.
„Am Steuer, ja. Zumindest vermuteten das die Ärzte. Vielleicht war er aber auch
einfach nur besoffen, das wäre naheliegender gewesen.“
„Wie lange ist das jetzt her?“
Die Direktorin schien zu überlegen. „Im Sommer 94 wurde Schloss Knauthain
offiziell eingeweiht. Es war an demselben Tag, das vergisst man nicht so
leicht.“ Sie blickte Clara freundlich an. „Also fast zwanzig Jahre.“
„Sein Tod scheint Sie ja nicht gerade erschüttert zu haben.“ Kranichs Stimme
war ganz nah.
Erika Lechmeier ging wieder zum Schreibtisch, nachdem Kranich sich neben sie
ans Fenster gestellt hatte. Die Nähe war ihr unangenehm.
Kranich blickte hinab. Mädchen in weißen Röcken liefen über den Platz. Etwas
abseits saß ein blonder, schmächtiger Junge auf einer Bank, er trug einen
riesigen Kopfhörer, der sein schmales Gesicht noch zerbrechlicher aussehen
ließ. Sein Alter war schwer zu schätzen. Zu seinen Füßen lagen ein paar Blumensträuße
in Plastikfolie, wie es sie in Tankstellen oder Supermärkten zu kaufen gab,
dazwischen einzelne Rosen. Ein paar Kerzen brannten. Der Junge blickte nach
oben. Er starrte Kranich regungslos an.
„Wer ist das?“
„Felix“, sagte Erika Lechmeier, ohne nachzufragen. „Felix Bonatti. Ein Schüler
von Helga, er hat auch die Initiative für diese kleine Gedenkstelle ergriffen.“
„An der Parkbank? Warum gerade dort?“
„Das ist Helgas Bank.“
„Bei uns haben alle Lehrer ihre eigene Bank“, fügte sie erklärend hinzu. „Im
Sommer werden die Schülergespräche im Park geführt, das gehört zum pädagogischen
Konzept. Man begegnet sich hier ungezwungener, gewissermaßen auf Augenhöhe.
Außerdem
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