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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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rosa Kleid und
sah darin aus wie nach der Ballettstunde. „Es handelt sich um einen simpel
programmierten Virus: Ein rotes Fenster erscheint und verschwindet wieder. Das
Fenster“, Lilly deutete nach vorne, „hat sich bei Stella dann stündlich auf dem
Bildschirm geöffnet. Das ist zwar eine kleine Variante im Vergleich zu Helga
Kramer, wo es nach einem unregelmäßigen Zeitcode funktionierte, doch ansonsten
besteht kein Zweifel, was die Identität der Programme betrifft.“
Sie lächelte wie eine Geisha. Dann setzte sie sich wieder.
„Die Botschaft ist schwer zu greifen“, fuhr Clara fort. „Ihre Vieldeutigkeit
macht sie bedrohlich. Sie lässt sich auf Täter und Opfer zugleich beziehen, sie
kann auch als harmlos eingestuft werden, sie löst sich in Nebel auf, sobald man
versucht, die Bedrohung konkret zu machen. Das Opfer, das den Zettel findet,
wird zunächst davon ausgehen, dass es selbst gemeint ist. Es wird sich fragen:
Ich? Wofür bin ich auserwählt?“ Clara sah, wie Johannes ihr zunickte. „Die
zynische Bedeutung erschließt sich erst, wenn es zu spät ist: Es ist auserwählt,
zu sterben.“
„Das Vokabular des Auserwählt-Seins stammt ja ursprünglich aus dem religiösen Bereich.“
Clara überlegte. „Das ist wichtig, denn der Täter versucht damit, seine Morde
als etwas Großes zu rechtfertigen. Seht her, das sind nicht die brutalen Taten
eines Verbrechers, will er damit sagen, sondern notwendige und sinnvolle
Bausteine in der kranken Welt, die sich in seinem Kopf ausgebaut hat wie ein
religiöses Sinnsystem.“
„Unser Täter mordet also nicht im Namen einer existierenden, öffentlich anerkannten
Religion. Er hat sich seine eigene Privatreligion gebastelt, was ihn jedoch
nicht ungefährlich macht. Denn die Welt, die er sich wünscht, existiert nur in
seinem Kopf. Sie wird erst real, indem er tötet. Indem er tötet, erfährt sich
das ohnmächtige Ich als Herr über Leben und Tod. Indem er tötet, erschafft er
seine Wunschwelt. Indem er tötet, wird er zum Gott.“
Alles war still.
„Was bedeutet das konkret?“ Kranich fragte das immer.
„Leider nicht sehr viel.“ Clara senkte den Kopf. „Wer sich regelmäßig solchen
Fantasien der Selbstvergrößerung und Selbstermächtigung hingibt, scheint in der
wirklichen Wirklichkeit eher ein kleines Licht zu sein. Er wird beruflich nicht
sehr erfolgreich sein, er wird im sozialen Gefüge nicht im Mittelpunkt stehen,
sondern eher als Durchschnittstyp oder Außenseiter sein Dasein fristen.“ Clara
zögerte. „Das ist aber nicht zwingend der Fall. Auch das Gegenteil ist denkbar:
Psychopathen sind oft sogar sehr erfolgreiche und auf den ersten Blick äußerst
charismatische Personen.“
Clara hob die Schultern, als müsse sie sich bei Kranich entschuldigen.
„Letztlich können wir das ganze Arsenal nach Ressler und Douglas ins Feld
führen“, schaltete sich Hagen jetzt ein. Er setzte voraus, dass die beiden Koryphäen
der US-amerikanischen Profiler allen ein Begriff waren. „Unser Täter ist
männlich, er ist jung, er stammt aus der Mitte der Gesellschaft, das heißt aus
kleinbürgerlichen Verhältnissen. Unser Täter ist ohne echte familiäre Bindung.
Er leidet unter depressiven und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, er ist
eher introvertiert, aber bisweilen arrogant. Und ganz wichtig: Er ist kaum
konfliktfähig und ohne altersentsprechende Beziehungen und Liebesbeziehungen.“
Hagen war in Fahrt. „Er besitzt nur eine geringe Frustrationstoleranz. Hat
manifeste Loser-Gefühle. Und auch ganz wichtig: Er hat eine geringe Empathie
bei einer gleichzeitig hohen, zuweilen kreativen Destruktionsenergie. Oft ist
ein überdurchschnittlicher IQ zu beobachten, zumindest wenn man ein
traditionelles, verkürztes IQ-Verständnis zugrunde legt, das den sozialen
Faktor nicht miteinbezieht.“
Clara sagte nichts.
Früher hatte sie noch darauf hingewiesen, dass solche Gemeinplätze nicht viel
brachten, doch auch das brachte nicht viel. Manchmal war es wichtiger, so zu
tun, als sei man souverän und fähig, den Kampf gegen einen Unbekannten zu
gewinnen. Hagen konnte das. Sie ließ ihren Blick über die versammelte
Mannschaft gleiten. Letztlich trafen die Kriterien auf fast jeden der hier Anwesenden
zu.
„Hinzufügen möchte ich noch einen letzten Aspekt.“ Hagen fuhr sich über die
Krawatte. „Frauenhass.“
„Frauenhass?“ Kranich sah ihn an. „Nur weil die beiden Opfer Frauen waren?“
„Ich denke, es ist kein Zufall, dass die beiden Opfer Frauen

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