Auserwaehlt
Trost
zuständig waren. Dagegen hatten sie aufbegehrt. Als Clara jetzt mit dem Bündel
im Arm an sie herantrat, streichelte sie dem Welpen über den Kopf.
33
Draußen war es Nacht. Clara versuchte, zu schlafen, doch die
Bilder des Tages gingen nicht aus ihrem Kopf und vermischten sich zu
unheimlichen Gebilden. Etwas sah sie aus großen, dunklen Augen an. Es war ein
Kind. Ihr Kind! Das war unmöglich. Sie sah Kranich, wie sie bei Judy Anspach
auf dem hellen, weichen Boden saß. Sie sah die dunklen Augenringe der
Bedienung. „Was hat er denn getan, ihr Mörder?“ hörte sie die Stimme des Cafébesitzers,
der ein Hundebaby im Arm hielt.
Ein Baby! Sie musste es David sagen.
Nachdem sie zwanzig Minuten mit einem Knoten in der Brust in ihrer Küche hin
und her getigert war, zog sich Clara das neue Kleid an, trat auf die Straße
hinaus und ging ziellos umher. Es war kurz vor eins und sie war froh, dass noch
viele Leute unterwegs waren. Sie musste es David sagen. Heute. Jetzt. Sie
starrte auf ihr Handy, dann ging sie weiter die Riemannstraße entlang.
Bei Smirn war noch Licht. Sie blieb vor dem Schaufenster des Antiquariats
stehen. Vielleicht hatte es eine Lesung gegeben und die letzten Gäste waren
eben erst gegangen. Vielleicht konnte auch er nicht einschlafen. Er winkte
Clara zu.
Als Clara eintrat, bimmelten die kleinen Glöckchen, die er hinter der Eingangstür
aufgehängt hatte. Smirn trug einen gepflegten Drei-Tage-Bart, der zur Hälfte
weiß war, eine goldene Brille und das passende Gesicht dazu: Wissend und zeitlos
schien es in sich selbst zu ruhen.
„Wie geht’s, Clara?“ Smirn vergaß nie, sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen.
„Geht so.“ Sie schaute sich um. „War ein langer Tag. Wie läuft's bei dir?“
Clara fühlte, wie ihr Handy vibrierte, doch sie ging nicht ran.
„Danke.“ Er sah von seinem Computer auf. „Ist bestimmt alles in Ordnung?
Wirklich nur müde?“
Sie lächelte und nickte.
„Was machen die Toten?“ Er stand auf, nahm ein Buch und drückte es ihr in die
Hand.
„Sie lassen mich nicht schlafen“, sagte Clara.
Smirn sah sie plötzlich entgeistert an. „Dieser Steinfisch-Mörder! Hast du
damit etwa zu tun?“
Die Zeitungen hatten es also bereits in ihren Online-Ausgaben gebracht. Es
wurde ausdrücklich vor dem „Stadtpark-Mörder mit der Spritze“ gewarnt. Man
solle nur noch zu zweit durch den Park gehen, wenn überhaupt, zumal als Frau.
Die roten Botschaften wurden zwar kurz erwähnt, doch die Gift-Geschichte stand
eindeutig im Vordergrund, zumal die Boulevardpresse den Mörder einheitlich als
„Steinfisch“ bezeichnete, nicht als den Auserwählten.
Die Presse hatte sich also an die Absprache gehalten. Aufgrund der Amokläufe
der letzten Jahre hatte sich die Einsicht durchgesetzt, den Größenwahn eines
Täters nicht mehr medial zu bedienen. Wenn der Täter die Zeitung aufschlug,
durfte er sich nicht in seiner eigenen, kranken Wahrnehmung bestätigt sehen,
„der Auserwählte“ zu sein. Clara hatte diese Berichterstattung begrüßt, doch
jetzt war sie sich plötzlich nicht mehr sicher. Es würde den Täter wütend machen.
Was, wenn er bereits deshalb den nächsten, grausameren Mord plante?
„Du darfst nichts sagen, was?“ Er sah sie an.
„Es war ein langer Tag“, nickte Clara und drehte sich um. „Pass auf dich auf,
Smirn.“
„Du auch.“
Die Glöckchen bimmelten. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Röte in Claras
Gesicht wieder verschwand. Als Smirn sie angesehen hatte, hatte sie das Gefühl
gehabt, er wisse etwas. Doch das war unmöglich.
Sie blickte auf das Buch in ihrer Hand. Es war ein Gedichtband. „Das Wunder des
Lebens“ stand darauf.
Clara bog links in die Solmsstraße ein und wählte die Nummer von Johannes
Teufel, der versucht hatte, sie zu erreichen. Er habe nur kurz Bescheid geben
wollen, sagte er, dass dem kleinen Hund nichts fehle. Er sei gerade auf der
Heimfahrt.
Als sie am Mehringdamm ankam, stand Johannes bereits da. Durch das Fenster
seines Jaguars sah Clara, wie der kleine Brustkorb sich hob und senkte.
„Was machen wir mit ihm?“
„Er schläft jetzt. Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel gegeben.“
„Und danach?“
„Er ist noch jung.“ Teufel bot Clara den Arm an. „Er wird ein neues Zuhause
finden.“
Schweigend liefen sie in Richtung Dorotheenstädtischer Friedhof. Aus einem
Hinterhof drang Musik herüber. Sie bogen rechts ab und Teufel hielt ihr die Tür
zu dem alten Fabrikgelände auf. Sie gingen zwei Stockwerke nach oben.
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