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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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man ein Kondolenzbuch aufgestellt, der Mann im hellen
Sommeranzug blieb jetzt davor stehen. Er nahm den Stift und schrieb etwas
hinein. In der Wandelhalle des Krematoriums ging ein Pärchen auf und ab. Er war
Anfang 60, grau, im schlecht sitzenden Anzug, sie etwa Mitte 50, mit
Kurzhaarschnitt und Sorgenfalten. Sie sahen die Inschrift nicht, die über ihnen
am Krematorium angebracht war. „Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch
Stunde.“
Clara begann zu zittern. Sie schaffte es gerade noch, hinter ein Grab zu kommen,
und spuckte eine Mischung aus Bananen und Kaffee auf die trockene Erde. Am Ende
kam nur noch heller Schaum, der in ihrer Kehle brannte wie Feuer.

35
    „Herr Ellenkamp. Kennen Sie diese Frau?“
Kranich schob das Foto von Stella Krefeld über den Tisch. Der Mann mit den
ausgemergelten Zügen grinste beim Anblick des schwarzen Tangas, der unter dem
roten Kleid hervor blitzte. Tim Ellenkamp war vor drei Stunden verhaftet worden,
als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss. Er sei ein paar Tage bei seiner
Mutter gewesen, hatte er gesagt, in Leipzig, und die Beamten warfen sich
vielsagende Blicke zu, als sei die Verbindung zu Helga Kramer dadurch bereits
bestätigt.
„Kennen Sie diese Frau?“, wiederholte Kranich schroff.
„Ach so, ich verstehe.“ Ellenkamp verschränkte die Arme. „Sie meinen die Legende
von den Frauen als Opfern.“
Kranich sah ihn an.
„Männer werden als Opfer von Gewalt ja einfach ignoriert“, fuhr Ellenkamp fort,
seine Stimme gewann an Festigkeit. „Das sollte Ihnen zu denken geben, Gewalt
von Frauen ist doch ein gesellschaftliches Tabu. Die wenigsten Männer trauen
sich doch, das ist erwiesen, bei der Polizei Anzeige zu erstatten, meistens
wird ihnen sowieso nicht geglaubt und wo sollten sie sich auch hinwenden?“ Er
blickte sich in dem leeren Raum um. „Haben Sie schon einmal ein Männerhaus
gesehen?“
Sein Grinsen zog sich abrupt zurück, als er forderte: „Gewalt von Frauen darf
nicht länger ein Tabu sein!“
Er sprach, als habe er die Sätze irgendwo gelesen und auswendig gelernt.
„Gewalt von Frauen ist doch ein Tabu!“ wiederholte er.
Kranich starrte ihn an. Das arrogante Gesicht des Mannes machte es einem
schwer, Mitleid zu empfunden. Denn gleichzeitig waren die Spuren von erlebtem
Leid nicht zu übersehen.
„Sind Sie Opfer häuslicher Gewalt geworden?“, fragte Kranich.
„Das passt nicht in ihr Bild, ich weiß.“ Ellenkamps Blick ging an Kranich vorbei
und bohrte sich in die weiß getünchte Wand.
„Hat ihre Mutter Sie geschlagen? Hassen Sie deshalb Frauen?“
„Meine Mutter?“ Er lachte drohend wie ein schlechter Weihnachtsmann im
Kaufhaus. „Meine liebe Frau Mutter hat mich verprügelt, jeden Abend, wenn sie
von der Arbeit nach Hause kam, hat sie mich verprügelt, aber das passt ja nicht
in ihr Bild! Den ganzen Frust, der sich Tag für Tag in ihr aufgestaut hat, den
hat sie an mir ausgelassen, abends, wenn sie nach Hause kam, meine Mutter
interessiert es einen Scheißdreck, was ich mache!“
Kranich blickte in ihre Unterlagen. „Vom 2. bis 5. Juli waren Sie in Leipzig.
Bei ihrer Mutter. Erst heute sind sie aus Leipzig zurückgekommen. Von ihrer Mutter.“
Sie beugte sich nach vorne und erhob die Stimme: „Warum hocken Sie dann dauernd
bei ihrer Mutter? Warum steckt sie Ihnen regelmäßig Geld zu?“
Ellenkamp wich zurück. Er roch nach Schweiß. „Frauen sind anders, ich weiß!“
Wieder das hohle Lachen. „Frauen sind zartfühlend wie Ann-Kathrin. Kennen Sie
meine Freundin? Hat sie mich angezeigt? Natürlich hat die mich angezeigt. Aber
hat sie auch gesagt, warum sie mich verlassen hat? Weil ich nicht genug Kohle
herangeschafft habe, nur darum ging es ihr, seelisch und moralisch war ich
damals am Ende, ich wusste auch nicht, was ich hätte tun können, um sie zurück
zu bekommen, sie lachte ja nur über mich.“
„Ihre Freundin Ann-Kathrin hat sie also verlassen“, versuchte Kranich, die
Gedankensprünge des Mannes zu ordnen. Es fiel ihr allerdings schwer, eine
Verbindung zu dem Mann herzustellen und sie war eine schlechte Schauspielerin.
Clara beobachtete alles durch den Venezianischen Spiegel. Sie konnte sehen,
dass sich alles in Margot dagegen wehrte, Sympathie mit Ellenkamp zu empfinden.
„Wann war das?“, fragte Kranich.
„Vor sechs Jahren“, nickte Ellenkamp. Die scharfen Nasolabialfalten, der
schmale Mund und die überwachen Augen verliehen ihm etwas Lauerndes.
„Eigentlich müsste ich ihr ja dankbar sein. Die Hure hat mir

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