Auserwaehlt
Unzählige
Tangopaare bewegten sich über die Tanzfläche.
Clara schloss die Augen. Ihre Schritte wurden kleiner, kaum mehr Andeutungen
eines Tanzes. Irgendwann blieben sie stehen und wiegten sich nur noch hin und
her.
34
Es war ein schönes, helles Gebäude, bei dessen Anblick man
sich unweigerlich fragte, wie viele Leichen hier schon verbrannt worden waren.
Das Krematorium des Friedhofs Wilmersdorf war Anfang der 90er stillgelegt
worden. Heute fanden hier nur noch Trauerfeiern statt.
Ein Loch öffnete sich, der Sarg fuhr hinein, die Gasflammen sprangen an und
fraßen sich in das Holz. Die Szene hatte sich tief in Claras Gedächtnis eingegraben.
Sie hatte sie mal in einem James-Bond-Film gesehen, da war sie noch keine zehn
Jahre alt und Sean-Connery-Fan gewesen.
Clara ließ ihren Blick über das Gebäude schweifen. Etwas Würdevolles ging von
ihm aus, ein Säulengang zog sich von rechts nach links, eine breite Freitreppe
führte hoch zum Haupteingang, eine Kuppel thronte über dem Zentralbau. Die
Dächer glänzten schwarz. Auf dem Vorplatz standen vier Statuen. „Die
Trauernden“ waren Frauen aus Stein, die ihr Gesicht in den Armen verbargen.
Von innen drang Musik heraus. Die Trauerfeier für Stella Krefeld hatte seit
zehn Minuten begonnen. Danach würde ihre Leiche verbrannt werden, allerdings im
Krematorium Ruhleben, das sich noch in Betrieb befand. Die meisten Angehörigen
von Mordopfern entschieden sich für eine Verbrennung. Es war, als könnte man
den geschundenen Leib dadurch erlösen, hatte ihr einmal eine Mutter erklärt.
Stellas Eltern hatten sich dazu entschlossen, ihr Restaurant in Spandau zu
schließen. Sie wollten in ein kleines Bauernhaus nach Umbrien ziehen und ihre
Tochter mitnehmen. Mit einer Urne sei das einfacher.
Dem Vater waren Tränen über die Wange gelaufen, als er die vielen Leute gesehen
hatte, die sich auf dem Vorplatz des Krematoriums versammelt hatten. Es waren
mehr als 200, schätzte Clara. Diejenigen, die nicht im Innern der Trauerhalle
Platz gefunden hatten, standen jetzt dicht gedrängt vor dem Eingang. Die Tür
stand offen. Eine Orgel spielte. Dann eine Geige. Nur wenige saßen auf der
Freitreppe in der sengenden Sonne wie die Frau im grauen Hosenanzug, die ihren
Kopf in den Armen vergrub und den Statuen auf dem Vorplatz glich.
Clara stand abseits im Schatten eines Baums. Sie fühle sich nicht wohl, hatte
sie heute Morgen zu Kranich gesagt, und war erleichtert gewesen, dass Kranich
ohne nachzufragen mit Leonhard die undankbare Aufgabe übernommen hatte, die
Gäste zu fotografieren. Ein Mann, der Kranich für eine Journalistin hielt,
meinte, sie solle sich schämen. Das passierte fast immer. Doch Kranich hatte
nur freundlich genickt. Sie schien sogar froh über die Abwechslung zu sein.
Seit fünf Tagen warteten sie darauf, dass Tim Ellenkamp endlich auftauchte. Seit
fünf Tagen wurde seine Wohnung überwacht. Seit fünf Tagen war er wie vom
Erdboden verschluckt.
Seit fünf Tagen willst du David anrufen! Mörder zog es magisch auf die Beerdigung ihrer Opfer, sagte man. Das war
ein Mythos, an den kein Ermittler so sehr glaubte wie Clara. Es mag ja sein,
hatte sie Kranich gegenüber argumentiert, dass 90 Prozent aller Täter sich
nicht für die Trauerfeier ihrer Opfer interessierten. Doch ihr Mann tat es. Er
wollte dabei sein. Er wollte die Verzweiflung spüren, die er hinterlassen
hatte, um überhaupt etwas zu spüren. Er wollte in die zerstörten Gesichter der
Angehörigen blicken, da war sie sich sicher.
Ein Mann im hellen Sommeranzug ging bedächtig über den Vorplatz. Clara hoffte,
Tim Ellenkamp zu erkennen, falls er sich unter die Trauergäste mischen sollte,
doch mehr als ein unscharfes Gesicht mit Nickelbrille hatte sie nicht vor
Augen. Sie drückte den Punkt an ihrem Handgelenk so fest, bis es schmerzte. Sie
hatte gelesen, das solle gegen die Schwangerschaftsübelkeit helfen. Sie hatte
gelesen, dass Schwangere eine besonders schöne Haut bekämen. Dass ihr Haar
besonders schön glänzen würde. Doch Clara sah furchtbar aus. Sogar Hagen hatte
sich heute Morgen aus Mitleid dazu bereit erklärt, sich an Claras Stelle nach
der Trauerfeier unter die engsten Angehörigen zu mischen. Es würde Kaffee und
Kuchen geben.
Allein wenn Clara an Kaffee und Kuchen dachte, wurde ihr übel. Sie hatte sich
bereits heute Morgen unter der Dusche übergeben müssen und befürchtete, dass es
noch mal passieren könnte. Vor allem deshalb stand sie hier unter dem Baum.
Auf der Freitreppe hatte
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