Auserwaehlt
Erdgeschoss waren heruntergelassen. Die Graffiti und Schmierereien
zogen sich bis zur ersten Etage. Auch die Rollläden waren mit schwarzen und
silbernen Buchstabenketten besprüht. Zwei Männer lehnten an einer Laterne und
rauchten. Sie trugen schwarze Stoffhosen und Kapuzenshirts. Clara erkannte
sofort, dass sie gut trainiert waren. Es waren zwei Beamte von der dritten
Direktion.
Sie musste an David denken und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.
Sie begrüßten sich. Die Männer berichteten im Flüsterton, dass die Eingangstür
bereits offen stand. Jemand habe das Schloss blockiert, um ein Einrasten zu
verhindern.
Es war ein typisches Treppenhaus eines Berliner Altbaus, doch die Rohheit, mit
der es heruntergewirtschaftet war, war deprimierend. Der braunrote Linoleumboden
war übersät mit Brandlöchern, die Briefkästen waren verbeult und quollen vor
Prospekten über. Die Namen der Mieter waren mehrfach überklebt oder mit einem
Feuerzeug unleserlich gemacht worden. Es stank nach kaltem Rauch, nach Pisse
und Kot. Die Wohnungstür im Erdgeschoss war mit Holzbrettern verrammelt.
„Nichts.“ Der Mann im Kapuzenshirt nahm die Taschenlampe von den Briefkästen.
„Kein Ellenkamp.“
Der andere war bereits die Treppe nach oben gegangen.
„Hier.“
Der Ruf des Fahnders kam von oben.
Clara ließ die anderen vorgehen. Die unteren Holzstufen waren so stark abgenutzt,
dass sich Kuhlen gebildet hatten. Auf dem Fenstersims lag ein benutztes Kondom.
In der zweiten Etage versammelten sich alle vor der Tür. Unter dem Spion klebte
ein Streifen Leukoplast. „SANTO / Ellenkamp“ stand mit Kugelschreiber in
Großbuchstaben darauf. Das Klingelschild hing an einem grauen Draht herab.
Die Männer konnten die Tür ohne Probleme öffnen, sie huschten voraus und kamen
sofort wieder zurück, nachdem sie sich versichert hatten, dass niemand darin
war.
Margot gab das Okay, die Wohnung zu durchsuchen.
Es gab einen kleinen Flur, die Decke war mit Rigips-Platten abgehängt. Rechts
ging eine Toilette ab, daneben die Küche und geradeaus lag das einzige Zimmer.
Eine Duschkabine mit Plastikvorhang war nachträglich in der Küche aufgestellt
worden. Clara kannte solche Wohnungen, zu Beginn ihrer Studentenzeit hatte sie
selbst mal in einer gewohnt. Das Ganze hatte vielleicht vierzig Quadratmeter.
Clara folgte Kranich in das Zimmer. Eine Matratze und ein Schreibtisch waren
die einzigen Möbelstücke. Alles, was Tim Ellenkamp zu besitzen schien, waren
Elektrogeräte: Zwei Computer, ein Laserdrucker, eine PlayStation, ein riesiger
Flachbildfernseher und eine Stereoanlage standen herum. Dazwischen Kabelgewirr.
Die Geräte blinkten und surrten. Die Matratze war mit einem senfgelben Laken
bespannt, das zu groß war, überall waren Falten, das Bettzeug war verknüllt.
Einer der Männer hatte sich Latexhandschuhe übergezogen und öffnete die
Schubladen der Box, die unter dem Schreibtisch stand.
Der Grad der Verwahrlosung war nicht so hoch, wie Clara erwartete hatte, doch
das Deprimierende war, dass es keine schönen Dinge gab; nichts Persönliches,
keine Fotos, keine Erinnerung.
Etwas knisterte.
Jemand leuchtete mit der Taschenlampe in die Ecke. In einer Plastikwanne saß
ein kleiner Hund. Er blickte sie panisch an und versuchte, sich in dem
dreckigen Streu zu vergraben.
„Ein Hundebaby!“ Clara zog es den Magen zusammen.
Kranich drehte sich zum Fenster, um zu telefonieren. „Okay, dann müssten sie ja
gleich hier sein.“ Sie spähte auf die Straße hinab. „Ja, einen Veterinär. Nein,
ist mir doch egal.“
„Was soll das?“ Sie drehte sich wieder um.
Clara hatte sich Latexhandschuhe übergestreift und streckte die Hände nach dem
Tier aus.
„Sei vorsichtig.“ Kranich steckte ihr Handy in die Tasche. „Das ist ein Beweisstück.
Vielleicht testet er das Gift an ihm, wer weiß.“
„Ich kann es ja eintüten“, sagte Clara und nahm das verängstigte Tier auf den
Arm. Sie rubbelte ihm das Fell mit Krepppapier ab. Mehr hatte sie nicht gefunden.
Kranich verdrehte die Augen.
Im Raum war es unruhig geworden. Die Männer von der Spurensicherung waren eingetroffen
und begannen, den Raum mit Pulver und Neonröhren zu bearbeiten. Die Server
wurden eingepackt und aus dem Zimmer getragen. Clara sprach mit beruhigenden
Worten auf das verängstigte Tier ein, das sich zitternd an sie schmiegte.
Kranich sagte nichts. Als sie vor vierzig Jahren bei der Streife angefangen
hatte, waren es sie gewesen, immer die Frauen, die für Mitgefühl und
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