Auserwaehlt
tot?“
Hagen nickte. „Wie hast du sie umgebracht, Tim?“
Er beugte sich über den Tisch, um Ellenkamp nahe zu sein. Sie brauchten Täterwissen.
„Woher hattest du das Gift?“, meinte Clara, Hagen flüstern zu hören. Doch als
sie genauer hinsah, waren seine Lippen geschlossen.
„Ich habe ... ich ... habe ...“, stotterte Ellenkamp.
Dann hielt er inne. Er schloss die Augen. Als er sie öffnete, war sein Gesicht
wieder versteinert, eine Maske, die die Grenze zwischen ihm und den anderen
unüberbrückbar machte. Er schien auch Hagen nicht mehr wahrzunehmen, als er mit
hohler Stimme verkündete: „Es ist mein Auftrag, die Sünderinnen zu bestrafen.
Santo musste diese Frauen töten. Er wird sie alle umbringen.“
35
Sie schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf, drehte zuerst den
kleinen Sicherheitsschlüssel zweimal herum, bevor sie mit dem großen, alten
Schlüssel die Eingangstür aufschnappen ließ. Für einen Moment starrte sie auf
den alten Schlüssel in ihrer Hand, der, wenn er vergoldet gewesen wäre, direkt
aus einem Märchen zu stammen schien. Erschöpft trat sie ein. Das Fischgrätenparkett
knarrte. Sie war den ganzen Tag auf den hohen Absätzen herumgelaufen und genoss
wie jeden Abend den Moment, wenn sie barfuß auf dem Boden zu stehen kam.
Plötzlich hob sie den Kopf. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft. Ihre Augen
verengten sich zu Schlitzen.
„Sag mal, spinnst du?“ Clara riss die Tür zum Wohnzimmer auf.
Ben, ein schlaksiger, großer Mann mit Glatze und Designerbrille, blickte sie
überrascht an. Er saß an ihrem Schreibtisch, der Computer lief, neben der
Tastatur standen eine Flasche Bier und ein Aschenbecher.
„Wo warst du so lange?“ Er inhalierte einen kräftigen Zug der schmal gedrehten
Zigarette.
„Hast du sie nicht mehr alle, oder was?“
Ben trug ein neongrünes T-Shirt, auf dem zwei Marsmännchen auf dem Kopf
standen. Verwundert sah er sie an.
Clara stob mit großen Schritten durch den Raum, riss das Fenster auf und kippte
einen Schluck Bier in den Aschenbecher. Es zischte.
Sie stand genau vor ihm. Seine Lider waren geschwollen. Sein Blick verhangen.
Anfangs hatte er sie an Marcel Proust erinnert. Jetzt stieg eine unbändige Wut
in ihr auf.
„Du kannst dir die Birne zudröhnen solange, wie du willst“, ihre Stimme war
schneidend. „Aber bitte bei dir zu Hause. Was denkst du dir eigentlich?“
Claras Augen funkelten. „Mir wird kotzübel von dem Zeug, das weißt du doch. Und
Mannomann, du bist 42, verdammte Kacke, benimm dich doch auch einfach so.“
Sie hatte Ben vor drei Wochen auf der Straße kennengelernt. Er stand vor der
Tür eines benachbarten Jazzkellers und rauchte, als sie von der Arbeit nach
Hause kam. Sie waren ins Gespräch gekommen. Das war das beste Mittel, David zu
vergessen, hatte sie gedacht.
„Ich bin Kriminalbeamtin, verdammt.“
Ben kratzte sich am Kinn. Er war noch nicht rasiert. „Willst du mich jetzt verhaften?“
Er grinste. Sie biss sich auf die Zunge, um sich zu beherrschen. Sie zählte auf
zehn. Sie durfte ihre Wut nicht an diesem Jungen auslassen; natürlich wusste
sie, dass sie sich auf sich selbst bezog.
„Verdammt.“ Clara wollte in die Küche, doch auf halbem Weg ließ sie sich auf
das Sofa sinken. Ihr war schlecht. Sie würde gleich kotzen müssen. Sie war
schwanger! Was machte sie nur! Plötzlich verwandelte sich ihre Wut in Tränen,
die ihr über das Gesicht liefen.
Ben nahm einen Schluck Bier.
„Hey, wenn ich gewusst hätte, dass du das so schlimm findest, dann ...“
Clara vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie sehnte sich so sehr nach David wie
noch nie zuvor in ihren Leben.
Was mache ich nur? „Hey.“ Ben war aufgestanden und kam zu ihr herüber. Unsicher legte er eine
Hand auf ihren Kopf.
„Lass gut sein“, brachte sie mühsam hervor. „Das hat keinen Wert mit uns.“
„Ich geh dann mal wohl“, kratzte sich Ben am Kopf.
Clara nickte matt.
„Hey.“ Er hob beide Hände beschwichtigend nach oben. „Take it easy.“
Clara kniff die Augen zusammen.
„Ich geh dann mal“, wiederholte er. Zwei Minuten später knallte endlich die
Wohnungstür. Der Joint hatte sich im Aschenbecher aufgelöst.
Clara starrte vor sich hin.
Aus dem Hinterhof drang Lachen herauf.
Viele ihrer Freunde fuhren im Sommer, sooft es ging, raus
ins Grüne, zum Spazierengehen nach Potsdam oder nach Glienicke, über das
Wochenende an den Wannsee, Scharmützelsee oder nach Buckow in das Ferienhaus
irgendeiner Tante irgendeines Bekannten. Abends wurde gegrillt.
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