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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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Schalenidentität.“
„Harte Schale, weicher Kern oder was?“
„Harte Schale, gar kein Kern.“ Das Kaffeegesicht grinste Clara an. „Junge
Männer wie Tim Ellenkamp sind die klassische Zielgruppe radikaler Organisationen.
Die Gründe sind vielfältig, weshalb diese Männer es nicht geschafft haben,
einen Identitätskern auszubilden. Sie sind nicht in der Lage, von den
Möglichkeiten und der Komplexität unserer heutigen Lebenswelt zu profitieren,
das Angebot überfordert sie. Letztlich sehnen sie sich nach einer einfachen
Lehre von Gut und Böse, nach einem Leben mit einer klaren Ordnung, in der sie
endlich nicht mehr benachteiligt sind.“
Leonhard sah sie durch seine randlose Brille an.
Hagen signalisierte ebenfalls Zustimmung. „Aber eine Überzeugung hat er.“ Er
fuhr sich über die Seidenkrawatte. „Es ist, wie ich gesagt habe. Der Frauenhass
ist echt.“
Sie starrten alle durch die Glasscheibe auf den Mann, der vollkommen reglos da
saß.
„Und was ist mit Gesellschaftshass? Welthass? Medienhass?“
„Clara hat recht“, sagte Kranich. Hagens permanentes Insistieren auf der Geschlechtszugehörigkeit
erfüllte sie aus unerfindlichen Gründen mit Unbehagen. „Es ist einfach zu viel
Hass, als dass man hier noch unterscheiden könnte.“
Es klopfte. Leonhard nahm eine gelbe Mappe in Empfang, die eine behaarte Hand
zur Tür hereinreichte.
„Also doch“, sagte Leonhard. Er sah enttäuscht aus. „Beim Jugendamt gibt es
tatsächlich keine Akte über die Familie Ellenkamp. Die Unterlagen beim
Arbeitsamt sind alles, was vorliegt.“
Leonhard setzte sich wieder und las: „Der Vater Ingenieur, die Mutter Krankenschwester,
1993 geschieden. Es gibt einen Bruder, der ist heute Chefarzt in der Charité.
Die Mutter arbeitet noch, sie ist in einem Pflegeheim in Leipzig angestellt.“
„Glaubst du wirklich, dass sie ihn geschlagen hat?“
Wieder blickten alle auf den Mann, der noch immer reglos da saß.
„Okay.“ Kranich sah erst Clara und dann Hagen an. „Wir sprechen mit dieser
Ex-Freundin. Ann-Kathrin wie was? Wir brauchen den Nachnamen. Vorladungen gehen
raus an die Mutter, an den Bruder, jemand muss noch mal mit der Kellnerin aus
dem Internetcafé sprechen. Clara und ich fahren nach Leipzig. Wir brauchen die
Verbindung zwischen Ellenkamp und Helga Kramer, sonst kommen wir nicht weiter.“
„Oder ein Geständnis.“
Die Neonröhre flackerte.
„Versuch du es noch mal, Hagen.“ Kranich sah ihm in die Augen. In ihrem Blick
lag etwas Undeutbares. Hagen glaubte, Ironie darin zu erkennen.
„Ich habe das untrügliche Gefühl, ihr zwei könntet Euch verstehen“, sagte sie
und Hagen antwortete mit einem stolzen Grinsen.
    „Ich bekomme einen Ausschlag, wenn ich das Wort 'Feminismus'
nur höre“, sagte Hagen zur Begrüßung. „Aber deshalb bin ich noch lange kein
Frauenhasser.“
Ellenkamp sah auf.
„Schließlich leben wir im liberalen Post-Gender-Zeitalter.“ Hagen drehte
schwungvoll den Stuhl herum. „Das Geschlecht ist heute doch unwichtig. Aber ich
möchte, dass Männer nicht diskriminiert werden.“
Rittlings setzte er sich Ellenkamp gegenüber.
„Tim. Hassen Sie Frauen?“
Der Angesprochene wich zurück.
„Dann frage ich anders. Sind Sie bereit, als Täter verurteilt zu werden, nur
weil Sie ein Mann sind?“
Ellenkamps Augen verengten sich. „Ich möchte Gerechtigkeit. Das ist alles.“
„Dann sind wir uns einig.“
Kranich wusste, dass Hagen nur spielte, dennoch kam er ihr plötzlich anders
vor, so echt wirkte das. Er sah sie kurz an. Seine Zähne waren makellos weiß.
„Wer glaubt, einen göttlichen Auftrag zu haben, dem wird doch heute gesagt,
dass er geisteskrank sei“, fuhr Hagen nach einer kurzen Pause fort. „Tatsächlich
ist es aber doch Wahnsinn, wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass jemand
krank sein muss, wenn er der Welt eine Botschaft mitzuteilen hat.“
Ellenkamp beobachtete sein Gegenüber.
„Warum haben denn alle so sehr davor Angst, dass ein Auserwählter kommt?“,
fragte Hagen.
„Die größten Denker des 20. Jahrhunderts waren sich einig, was den Verblendungszusammenhang
betrifft“, sagte Hagen und Clara wunderte sich, woher er das hatte. „Das heißt,
die Menschen sind heutzutage doch gar nicht mehr fähig, die Wahrheit zu
erkennen.“ Er ließ seinen Blick hinter den Spiegel gleiten, wo er Kranich
vermutete. „Also kann doch nur einer, der von außen kommt, die Wahrheit über
die Wirklichkeit sagen.“
Ellenkamp blickte auf.
„Kennen sie den Vergleich mit dem

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