Auserwaehlt
übermüdet, nackt. Ihrer Mutter zuliebe hatte sie versucht,
wieder zur Uni zu gehen, doch es hatte keinen Wert. Seit Stellas Tod war die
Realität eine weiße, absurde Masse, die sie fortriss und hinab drückte wie eine
heimtückische Unterströmung im Meer. Seit Stellas Tod war keine Minute
vergangen, in der sie nicht daran gedacht hätte. Sie hatte noch immer dieselben
Fragen. Was ist wirklich passiert? Wer hat Stella umgebracht? Warum? Wie hat er
es getan? Wie genau hat er es getan?
Wenn sie daran dachte, wie er sie gequält haben könnte – und jede Nacht kamen
ihr neue Bilder –, rissen der Schmerz und die Wut ihren Körper auseinander, bis
die Ohnmacht sie erlöste, ein dumpfer Schlaf, den die Tabletten ihr brachten.
Im Netz hatte sie gelesen, dass die Tabletten Träume verhinderten. Doch Judy
träumte davon, in einem leeren, schwarzen Zuschauerraum zu sitzen. Sie starrte
auf die Bühne, sie wartete, bis es endlich losging, doch der Vorhang blieb
geschlossen. Was denkst du, hatte der Therapeut sie gefragt, was dahinter
stattfindet? Das Leben, hatte sie gesagt. Der Tod.
Die U-Bahn hielt am Breitenbachplatz, Leute stiegen aus, Leute stiegen ein, das
Türsignal ertönte, die Türen knallten und die Bahn verschwand wieder in dem
schwarzen Loch.
Nach Stellas Tod war Judy drei Wochen im Bett geblieben. Es hatte sich angefühlt,
als sei sie gelähmt. Ihre Mutter hatte neben ihr gesessen und für das Nötigste
gesorgt. Zur Prüfung war Judy erst gar nicht angetreten. Wenn sie damals sofort
die Polizei angerufen hätte, nachdem Stella nicht im Schleusenkrug erschienen
war, hätte sie es dann verhindern können? Wäre Stella noch am Leben? Es war
doch klar gewesen, dass etwas nicht gestimmt hatte. Aber Stella war ihr
unverletzlich vorgekommen.
Die Bahn hielt am Fehrbelliner Platz. Judy ließ ihren Blick über das hellgrüne
Jugendstilgeländer gleiten, über die alten Fotos an den Wänden, die gelben
Fliesen und historischen Schilder bewegten sich an ihr vorbei, dann kam wieder
das dunkle Loch.
Nach drei Wochen war Judy aufgestanden. Sie hatte begonnen, die alten Mails von
Stella zu lesen. Und plötzlich erinnerte sie sich wieder. Stella hatte ihr
täglich die Mails weitergeleitet, die sie von „dem irren Polizisten“ bekommen
hatte. Wochenlang hatte er sie bedrängt, um sie geworben und sie beschimpft.
Erst als Stella ihm drohte, ihn wegen Stalkings anzuzeigen, hatte er Ruhe gegeben.
„Der irre Polizist“ - so hat Stella ihn immer genannt. Sein echter Name erschien
damals belanglos. Es war möglich, dass Stella ihn einmal erwähnt hatte, doch
Judy erinnerte sich nicht mehr daran. Seine E-Mail-Adresse war eine Kombination
aus Zahlen. Judy wusste nichts von ihm, außer, dass Stella ihn auf einem der
Seminare getroffen hatte, die ihr Prof regelmäßig für Externe anbot.
Als Judy die E-Mails wieder las, musste sie sich übergeben. Rückblickend war es
kaum zu ertragen, was der Typ schrieb. Alles deutete auf eine kranke Psyche
hin, die zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen hin und her
pendelte. Alles deutete darauf hin, dass er sich für einen Gott hielt. Für
auserwählt. An einer Stelle formulierte er es sogar fast wortwörtlich. „Ich bin
etwas ganz Besonderes“, schrieb er, „jemanden wie mich lässt man nicht einfach
fallen.“
Die Polizei hatte Stellas Computer untersucht. Warum sind sie nicht auf die
Mails gestoßen? Oder hatte Stella sie längst gelöscht? Judy musste das wissen.
Sie war auf dem Weg ins Präsidium, sie wollte mit der Frau sprechen, die Stella
ähnlich sah, sonst würde sie wieder gehen.
Judy wusste ja nicht einmal, ob „der irre Polizist“ aus Berlin kam. An den Seminaren
nahmen Leute aus ganz Deutschland teil. Doch der Verdacht, dass er die Ermittlungen
manipulieren könnte, ließ Judy nicht mehr los.
Judy Anspach stieg am Wittenbergplatz aus und ließ sich von der Masse nach oben
treiben. Beim Anblick des KaDeWe schnellte ihr Puls nach oben. Der Schweiß
brach ihr aus. Sie bekam keine Luft mehr. Judy blieb stehen. Sie versuchte,
ruhig zu atmen und überlegte, ob sie noch einen Tranquilizer einwerfen sollte.
Ihr Therapeut hatte ihr die Tabletten verschrieben. Das KaDeWe wirkte größer
als sonst. Stundenlang war sie mit Stella durch die Abteilungen flaniert, die
Wäscheabteilung, die Kosmetik, die Lebensmittel. An Weihnachten hatten sie ihre
Köpfe durch die Fotowand mit dem Christkind gesteckt und gelacht. Jetzt ragte
das riesige Gebäude wie ein Gespenst in die Welt der
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