Auserwaehlt
ihre vierjährige Tochter zu Tode gequält hatte, sie selbst wurde vergewaltigt
und mit abgeschnittenem Ohr vor den Stufen des Präsidiums abgelegt. Doch sie
werde, das hatte Jody mit vor Hass und Liebe glühenden Augen gesagt, diesem
Abschaum nicht den Gefallen tun, auf die dunkle Seite der Nacht zu wechseln.
Damals hatte Clara diese Frau bewundert. Heute war sie ihr unheimlich. Wenn
Clara auch nur daran dachte, dass jemand ihr Kind ...
„Vielleicht hilft es dir ja“, hörte sie Johannes.
„Was?“
„Du wusstest es also auch nicht?“
„Was?“
„Margot hatte Brustkrebs.“
Clara starrte den Kellner an, der eine Flasche Wasser brachte und zweimal das
Abendmenü.
„Das Karzinom war bereits weit fortgeschritten“, sagte Johannes leise. „Ich hab
bei Margots Frauenarzt angerufen, was da los ist, Margot musste längst starke
Schmerzen gehabt haben, unwahrscheinlich, dass sie es nicht gewusst hatte.“
Brustkrebs? „Schon vor drei Monaten hatte er sie ins Westend überwiesen, Mammografie,
Kardiologie, das ganze Programm.“ Johannes nahm einen Schluck Wein. Es schien
ihm Schmerzen zu bereiten, das Glas zu halten. „Knappe 20 Prozent
Heilungschance hatte sie noch.“
In den Spaghetti lagen schwarze, geöffnete Schalen. Es waren Muscheln.
Margot hatte Krebs? „Aber sie ist nicht ins Krankenhaus?“, fragte Clara, obwohl sie die Antwort
kannte. Das passte zu Margot. 20 Prozent waren ihr zu wenig.
Teufel nickte, als habe er ihre Gedanken gelesen. Margot hatte einfach weitergemacht
wie immer.
„Auf Margot“, sagte er.
Clara drehte das Glas zwischen den Fingern.
„Auf Margot“, flüsterte sie und nahm einen kleinen Schluck.
Sag es ihm. „Johannes“, sie zögerte. Sie duzten sich schon lange, doch beim Vornamen
hatte sie ihn noch nie genannt.
„Eigentlich wollte ich es Margot zuerst sagen, aber ...“ Clara starrte auf die
schwarzen Schalen. Etwas Weißes, Wabbeliges war darin. „Ich weiß nicht, wie ich
es sagen soll. Und jetzt kommt es mir doppelt absurd vor. Ich meine, eigentlich
ist es ja das Natürlichste der Welt, aber ... Findest du es nicht auch absurd,
woher all die Menschen kommen, die hier sitzen?“
Johannes sah sie besorgt an. „Wie, woher all die Menschen kommen?“
Sag es ihm einfach. „Und seit Margot tot ist, habe ich Angst, dass ihm vielleicht etwas
passiert ist. Ich fühle nichts mehr. Und selbst wenn es noch lebt, viele sagen
ja, dass die Gefühle der Mutter in dieser Phase schon prägend sind.“
Johannes legte die Gabel weg. „Die Gefühle der Mutter?“
Claras Augen wurden wässrig. „Ich bin schwanger.“ Als sie das Weinglas an ihre
Lippen führte, hielt Johannes ihre Hand zurück.
„Du bist schwanger, Clara.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich schaffe das nicht.“
Er ließ ihre Hand nicht mehr los. „Wir schaffen das.“
Clara zog die Hand nicht zurück. Es fühlte sich selbstverständlich an. Bereits
als sie sich vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet waren, Clara hielt damals
die Hand einer Toten, die schon lange erkaltet war, hatte sie es in seinen
Augen gesehen. Sie waren sich nah, als hätten sie eine Geschichte zusammen.
„Warum habe ich es Margot auch nicht gesagt?“, flüsterte Clara. „Jetzt ist es
zu spät. Es macht mich wahnsinnig, es ihr nicht mehr sagen zu können.“
Johannes nickte. Er suchte in Claras Augen nach einem Zeichen, ob sie es
wusste. Der wässrige Schleier verriet nichts. Margot war 1972, kurz bevor sie
die Stelle angetreten hatte, schwanger gewesen. Sie hatten lange darüber
diskutiert, alle Welt hatte damals über Abtreibung diskutiert und es war ihnen
als die beste Lösung erschienen.
„Margot hätte sich gefreut“, sagte er.
„Meinst du?“
„Ja.“ Teufel fuhr sich über die Wange und wunderte sich über die Feuchte, als
wisse er nicht, woher die Tränen kamen.
„Ganz sicher.“ Margot war damals von ihm schwanger gewesen. Susanne hatte es
immer geahnt, dass ihn und Margot ein Geheimnis verband, doch bei all ihren
Unterstellungen, Nachfragen und Vermutungen, darauf war sie nie gekommen.
„Wievielte Woche?“, fragte er.
„Zwölfte.“
Er nickte wieder.
„Und der Vater?“
„Er weiß noch nichts davon.“ Claras Stimme wurde härter. „Ich bin mir nicht
sicher, ob ich es ihm überhaupt sage.“
46
Der Signalton verursachte ihr Schmerzen. Die Türen knallten
zu. Die U-Bahn beschleunigte und verschwand in einem schwarzen Loch. Judy
Aspach saß in der U1 in Richtung Norden. In den dunklen Scheiben schwebte ihr
aufgedunsenes Gesicht,
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