Auserwaehlt
Wort. „Es ist ja nicht nur das. Hagen
war in der Tatnacht bei Margots Haus. Er wurde eindeutig identifiziert. Nach
unserem Wissen war er demnach der Letzte, der mit Margot in Kontakt stand. Und
die Mails sind kein Kavaliersdelikt, sondern fallen unter Stalking, das weißt
du. Natürlich ist es schwer, das können wir alle nachvollziehen, aber ...“
Rebecca schenkte ihrem Chef einen bedauernden Blick. Sie wirkte so wach, dachte
Clara und fühlte sich plötzlich meilenweit von ihr entfernt.
Clara zog ihr T-Shirt nach unten, in dem sie auch geschlafen hatte. Heute
Morgen hatte sie einfach keine Kraft gehabt, sich umzuziehen. Sie trug ihre
Lieblingsjeans. Den obersten Knopf bekam sie nicht mehr zu.
„Aus dem Obduktionsbericht geht eindeutig hervor, dass Margot Kranich zwischen
null und zwei Uhr an einem Herzstillstand gestorben ist. Das Gift hatte bereits
alle ihre Organe zersetzt. Das heißt, es muss mindestens fünf Stunden in ihrem
Körper gewesen sein, bevor sie starb. Daraus folgt, dass ihr die Spritze
zwischen sieben und neun Uhr abends verabreicht wurde. Wir haben Zeugen, die
Hagen kurz nach zehn an Margots Haus gesehen haben, wobei wir nicht wissen, ob
er zu dieser Zeit erst dort ankam oder nur mal schnell vor die Tür getreten
ist. Das tatrelevante Zeitfenster deckt sich also durchaus mit Hagens Aufenthalt
vor Ort. Wir dürfen das nicht ignorieren“, hörte sie Rebecca.
„Hier.“ Rebecca reichte Leonhard, der das Protokoll führte, ein paar Notizen.
„Fünf Stunden.“ Clara vermied jeden Blickkontakt. Das Gesicht, das sie heute
Morgen im Spiegel gesehen hatte, war ihr fremd. „Kann mir mal jemand sagen, was
er fünf Stunden mit Margot gemacht hat?“
Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, doch in den bestürzten Gesichtern der
anderen sah sie, dass sie weinte.
„Es gibt keine Spuren körperlicher Folter. Es fand kein sexueller Missbrauch
statt“, sagte Rebecca. Clara nickte ihr dankbar zu.
Clara musste sich zusammenreißen, sonst würde Reichenbaum sie zwangsbeurlauben.
Sie nahm die Serviette, wischte sich die Tränen ab und erwiderte den
Blickkontakt des Hauptkommissars.
„Nach Margots Tod glaube ich nicht mehr, dass es sich um Zufallsopfer handelt“,
sagte sie. „Ich denke, niemand glaubt das mehr. Unser Täter will in den paar
Stunden, die er sein Opfer unter Kontrolle hat, irgendetwas erreichen.
Vielleicht will er sich rächen für etwas, das er in der Vergangenheit als Kränkung
empfunden hat. Auf jeden Fall versucht er, eine ganz bestimmte Reaktion zu
bekommen, die er sich in seiner Fantasie zurechtgelegt hat. Irgendetwas, nach
dem es ihm später besser geht.“
„Es fehlt jede Verbindung zwischen Hagen und dem ersten Opfer, dieser Helga Kramer.“
Reichenbaum kritzelt mit einem Kugelschreiber auf seinem Block herum.
„Wir haben das bisher nicht überprüft.“ Clara rieb sich die Augen. Sie hatte
das Gefühl, die ganze Nacht über nicht geschlafen zu haben, und Schlaftabletten
wollte sie dem Baby nicht zumuten. „Es bestand ja kein Anlass. Aber ich weiß,
dass Hagen, bevor er nach Boston ging, ein paar Semester in Leipzig studiert
hat. Ich bin mir nicht sicher, ob seine Mutter immer noch dort wohnt, aber ...“
„Okay.“ Reichenbaum riss die oberste Seite von seinem Block, knüllte das Papier
zusammen und zielte auf den Mülleimer. „Clara, du überprüfst das mit Leipzig.
Rebecca und Ludger, ihr kommt mit mir. Ich beantrage einen Durchsuchungsbefehl
für Hagens Wohnung. Wir müssen offensiv damit umgehen. Der Verdacht muss so
schnell wie möglich aus der Welt geräumt werden.“
Er sah Rebecca an. „Gib bitte bei der Vierten Bescheid. Sie sollen Hagen herbringen,
zumindest offiziell muss er solange in Untersuchungshaft.“
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„Tut mir leid, man, ich weiß, das ist Bullshit, aber ...“
Er trat von einem Bein auf das andere. Die Aufgabe war ihm sichtlich unangenehm.
„Aber ich muss dich, also ich soll dich ...“
„Willst du mich etwa verhaften?“
Er lachte, als habe Hagen einen Witz gemacht.
„Es ist zu deiner eigenen Sicherheit.“ Er sah ihn nicht an. „Es gibt da ein
paar blöde ... Zufälle. Du weißt, dass Reichenbaum sich darum kümmern muss,
sonst ist er seinen Job los.“
Hagen verzog keine Miene. Er stemmte seine Hand gegen den Türrahmen und
beobachtete, wie der Kollege sich wand.
„Die werden bald hier sein“, sagte er und zuckte entschuldigend mit den Achseln.
„Die müssen deine Wohnung durchsuchen.“
Nichts deutete darauf hin, dass Hagen das gestört
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