Ausgeflittert (Gesamtausgabe)
hatte in fünfzehn Jahren keinen freien Tag. Täglich von 6 Uhr früh bis in die Nacht im Lokal zu verbringen, scheint mir der wahre Grund dafür zu sein, dass er das Geschäft so schleifen lässt«. Nachdenklich stützt er seinen Kopf auf die Hände. Nach einem Moment des Schweigens sagte er: »Das, was René zu viel an Arbeit hat, habe ich zu wenig. Marie, ich will mich noch nicht aufs Altenteil begeben. Mal ein paar Wochen nichts zu tun und den Tag mit dir zu genießen, ist wundervoll. Aber ich brauche eine Aufgabe, sonst drehe ich durch.«
»Dann mach dich nützlich. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein durchgedrehter Mann.« Tobias beschließt, seine Suche nach Gewerbeobjekten fortzusetzen, sobald er wieder selbst Auto fahren darf.
Seine erste Fahrt führt in den Ort. Nach einem Monat Abstinenz fährt er so langsam und bedächtig die Küstenstraße entlang, dass er von allen nachfolgenden Fahrzeugen hupend überholt wird. Ich breche in schallendes Gelächter aus.
»Du schleichst wie Karl Simon in seinen besten Zeiten. Los Opa, gib endlich Gas. Du blamierst mich hier auf ganzer Linie.« Vor der Eins hat sich eine Schlange gebildet. Der Anblick so vieler Leute, die ins SPA drängen wollen, ist ungewöhnlich. Ich springe noch auf der Straße aus dem Wagen, während Tobias nach einem freien Parkplatz Ausschau hält.
»Was ist hier los?« Jean zeigt auf das Lokal, das verschlossen ist. Sarah stürmt aufgeregt aus dem Salon dazu.
»René hat heute nicht aufgemacht. Weißt du, was los ist?« Ich bin genauso ahnungslos und winke Tobias herüber. Gemeinsam steigen wir die Treppe zu seiner Wohnung hinauf und klopfen an die Tür.
»Aufbrechen!«, befehle ich und Tobias sieht mich ungläubig an. Weil mein Mann nicht sofort reagiert, werfe ich mich mit voller Wucht gegen die Tür. So wie ich es in vielen Krimis im Fernsehen gesehen habe. Allerdings mit dem einzigen Erfolg, dass mir der Arm schmerzt. Die Tür bleibt zu. Als ich erneut ansetzen will, hält Tobi mich zurück. Er öffnet die Tür mit zwei kräftigen Fußtritten. Ich stürze in das Wohn/Schlafzimmer und finde den Wirt in seinem Bett vor. Völlig bekleidet und sturzbetrunken liegt er in Bauchlage auf seiner einstigen Liebesmatratze.
»Er ist voll wie eine Haubitze!« Ich suche ihn nach dem Schlüsselbund ab und werde in seiner rechten Hosentasche fündig. Ich bitte Sarah, das Lokal zu öffnen und kümmere mich um den komatösen René. Als er das Geräusch der Rollladen wahrnimmt, sagt er: »Das Geschäft bleibt geschlossen. Es ist vorbei.« Tobias schleppt ihn unter die Dusche und ich koche ihm einen starken Kaffee. Als er ansetzt, einen Schluck zu trinken, lege ich los. In meiner gefürchteten Muttertonlage erhält er den Einlauf seines Lebens.
»Bewege dich und rufe deine Lieferanten an. Du hast weder Getränke noch Zutaten für die Küche. Dein Kühlraum ist leer und draußen warten 30 Leute darauf, von dir bedient zu werden.«
»Marie, du verstehst nicht. Ich kann nichts bestellen. Ich stehe seit Wochen bei meinen Lieferanten in der Kreide. Es ist aus. Ich bin pleite!« Ich schaue Tobias bettelnd an. Warum will mein Mann nicht auf Anhieb begreifen, was ich von ihm will?
»Tobi wird jetzt mit dir einkaufen fahren. Und wenn mein Schatz etwas mehr aufs Gaspedal tritt, können wir wenigstens noch das Abendgeschäft retten.« René macht keine Anstalten aufzustehen. Er trinkt seinen Kaffee aus und zieht sich die Decke über den Kopf. Fassungslos verlasse ich seine Ausnüchterungszelle. Die Terrasse ist zur Hälfte gefüllt. Allerdings nicht mit durstigen und hungrigen Gästen, sondern mit Mitarbeitern und Musikern, die ihren Lohn und ihre Gage lautstark einfordern.
»Ihr könnt jetzt weiter hier rumschreien, aber es wird euch nichts nützen. René wird heute nicht mehr kommen. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ihr packt mit an und wir versuchen zu retten, was zu retten ist oder ich ziehe die Rollladen jetzt runter und das war es dann.« Zuerst wende ich mich an seinen Beikoch. Zusammen gehen wir in die Küche und stellen eine Einkaufsliste zusammen. Tobias fährt mit ihm zum Großmarkt. Ich telefoniere mit dem Getränkelieferanten. Als er mir sagt, dass er nur gegen Ausgleich der Altforderungen liefern wird, drohe ich ihm damit, dass er das Lokal für alle Zeiten von seiner Kundenliste streichen kann.
»Die heutige Lieferung zahlen wir in bar. Wenn du in einer halben Stunde nicht auf
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