Ausgeflittert (Gesamtausgabe)
fahre gleich weiter. Was ist mit dem Schlüssel? Darf ich ihn behalten oder willst du, dass ich künftig klingeln soll.«
»Noch ist es auch dein Haus. Solange das so ist, solltest du auch einen Schlüssel haben. Ich betrete das Schlafzimmer und mein erster Blick fällt auf die geöffneten Schranktüren, die die neue Leere im Haus verdeutlichen. Ich setze mich aufs Bett und rieche an seinem Kopfkissen. Tief atme ich seinen Geruch ein und entscheide mich, die Betten nicht zu beziehen.
Tobias besorgt das Geschenk. Paul soll zum Geburtstag ein Handy, älterer Bauart bekommen. Eines mit großen, beleuchteten Tasten, in die Thea ihm die wichtigsten Rufnummern in Kurzwahl speichern will. Seitdem Paul mit einem Smartphone zu telefonieren versucht, erreicht er immer nur den ADAC. Die Bemühungen seiner Frau und seiner Töchter, ihm die Handhabung des Touchscreens zu erklären, brach er ungeduldig mit den Worten ab: »Ich wollte ein Telefon. Ein einfaches Gerät zum Telefonieren!« Wutentbrannt hatte er das kostbare iphone an die Wand geschmissen.
Mit einem großen Blumenstrauß warten Clara und ich auf Tobias.
»Wie hübsch ihr euch gemacht habt. Für mich oder für Paul?«
»Für Paul«, sagen Clara und ich zeitgleich. Er fährt die Strecke wieder mit Vollgas und dem Ehrgeiz seine Fahrzeit, erneut zu unterbieten. 40 km vor dem Ziel wird er wiederholt geblitzt. Diesmal sollte der Führerschein definitiv weg sein. Tobias scheint die Tatsache, künftig nicht mehr am Steuer sitzen dürfen, weniger zu belasten. Bestimmt bekommt er bald einen eigenen Fahrer. Wegen der langen Diskussion mit den Verkehrspolizisten treffen wir als Letzte zur Familienfeier ein. Timo öffnet die Tür und begrüßt mich mit einer langen Umarmung. Er stellt mir seine Frau Christina vor und ich finde sie in ihrem weißen Hosenanzug, trotz der mondänen Frisur und dem verschwenderischen Geschmeide charmant. Paul freut sich sichtlich über das Kommen seiner Schwiegertochter. Immer wieder drückt er meine Hand. Als er sein Geschenk auspackt, ruft er seiner Frau zu: »Das Thea, das ist ein Telefon!« Er zeigt mir an, ihn in den Salon zu schieben.
»Du weißt, was ich mir von dir wünsche. Mach meinen Sohn wieder glücklich und versöhne dich endlich. Ich kann nicht dabei zusehen, wie er wie ein Hund leidet. Du bist stur, ich weiß. Ein bisschen Sturheit ist auch sexy. Aber genug ist genug!« Ich lache ihn aus.
»Ihr Martins seid es gewohnt, alles zu bekommen, was ihr euch wünscht. Du hast Tobias gewollt und ihn bekommen. Du hast gewonnen, Paul. Aber mich gibt es nicht als Beiwerk dazu. Also sei nicht unverschämt.« Ich lasse ihn ohne ein weiteres Wort zurück. Ich habe wieder diesen stechenden Schmerz in der Nase und will auf keinen Fall vor meinem Schwiegervater weinen. Der gute Geist des Hauses serviert Schampus und Orangensaft. Diesmal nehme ich Schampus. Natascha flüstert mir zu, dass gleich Pauls Ansprache kommt und er Timo verabschieden und seinen Nachfolger vorstellen will. Die Gäste begeben sich in den Garten. Für Paul hat man eine Bühne vorbereitete, zu der er sich über eine Rampe mit dem Rollstuhl aus eigener Kraft hin begeben kann.
»Geschäftlichen Erfolg zu haben, ist ein berauschendes Gefühl. Manch einer behauptet, es sei mit körperlicher Liebe zu vergleichen. Ich sage, das ist Quatsch. Es ist nichts gegen die aufrichtige Liebe zu seiner Ehefrau und seiner Familie. Timo hat sich richtig entschieden. Ich freue mich für ihn und Christina. Nutzt eure Zeit und bleibt glücklich.« Du alter Heuchler, denke ich und nehme mir ein zweites Glas Schampus. Ich suche Tobias, kann ihn aber nicht entdecken.
»Mit Freude stelle ich heute seinen Nachfolger vor. Es gibt keinen Besseren für diese Position. Ein Talent aus zweiter Reihe. Ohne Frau und ohne Kinder. Begrüßen Sie mit mir, Herrn Oliver Basken. Er genießt mein volles Vertrauen und wird mit seiner Kraft und Erfahrung die erfolgreiche Arbeit meines Sohnes fortsetzen.« Ich höre den dumpfen Applaus der zahlreichen Gäste. Ich kann mich nur verhört haben. Aber der junge Mann, der den Händedruck von Paul entgegen nimmt, ist nicht Tobi. Wieder wandern meine Blicke durch die Menschenmenge. Ich kann ihn nicht finden. Erst ein ständiges Klickgeräusch, lässt mich in seine Richtung schauen. Mit seiner alten Kamera fotografiert er mich, genau wie in unseren Anfangszeiten.
»Deinen Gesichtsausdruck musste ich unbedingt festhalten. Du hast
Weitere Kostenlose Bücher