Ausgeflittert (Gesamtausgabe)
überfüllt. Tobias muss drei Mal um den Block fahren und stellt seinen Wagen hinter Karls und Hannas Auto ab. Wir sind die letzten Gäste und werden vom Brautpaar schon mit Spannung erwartet. Die Enkel laufen laut schreiend auf uns zu und begrüßen mich und Tobias mit herzlichen Umarmungen und Küssen. Sie sind die Einzigen, die sich über sein Erscheinen freuen. Karl und Hanna lassen sich zu einem neutralen Kopfnicken herab. Frederik grüßt per Handzeichen. Ich spüre, wie Tobi eine Welle der Ablehnung entgegen stößt und ich greife nach seiner Hand und lasse sie während der Trauungszeremonie nicht mehr los. Frederiks alten Freunde köpfen vor der Außentreppe einige Flaschen Schampus und versorgen alle Gäste mit einem Glas zum Anstoßen. Valium trägt ein cremeweißes, langes, schulterfreies Kleid. Sie hält keinen Brautstrauß, sondern eine einzelne, weiße Lilie in der Hand.
»Friedhofsblumen!«, flüstere ich Tobi ins Ohr. »Die passen zu der Totgeburt«. Der Florist hatte es versäumt, die Blütenpollen zu entfernen. Nun verfärbt der Blütenstaub ihren Schoß dunkel gelb. Ihr Bemühen, das Kleid auf der Toilette mit Wasser zu reinigen, macht die Sache nur noch schlimmer. Sie sieht aus wie eine inkontinente Braut. Ich will der weinenden Sabrina meine Stola überlassen, aber die zickige Frischvermählte lehnt mit den Worten ab: »Lass mal.« Diese Äußerung werde ich in mein Buch der gesprochenen Worte eintragen. Ein wenig schadenfreudig verlasse ich die Damentoilette und treffe direkt auf Steffen, der in der Schlange zum Herrenklo ansteht.
»Erinnerst du dich noch an deinen Kommentar, als wir Valium das erste Mal kennenlernten? Ich erinnere mich noch gut. Blutarme Schlaftablette mit schwacher Blase, lautete dein Urteil nach erster Bemusterung. So wie die Braut heute aussieht, könnte dein Verdacht mit der schwachen Blase ja stimmen.« Steffen lacht und ich kann nicht anders, als auch mit zu lachen. Das Eis ist gebrochen, denke ich erleichtert. Er hat nicht vor, den Hochzeitstag für eine Abrechnung zu nutzen. Unverkrampft geht er auf Tobias zu und gibt ihm die Hand.
»Seid ihr durchgefahren«, fragt er den verhassten Neuen an der Seite seiner Ehefrau.
»Ja, aber gestern schon«, antwortet Tobi kurz. Im hupenden Konvoi macht sich die Hochzeitsgesellschaft auf den Weg ins 8 km entfernte Heidedorf. Mich beschleicht beim Anblick des Hauses ein komisches Gefühl. Alles ist mir so vertraut und doch fremd. Der Garten ist lange nicht mehr so gut in Schuss, wie zu meiner Zeit. Auf der Terrasse sind Stehtische und Stühle aufgebaut. Alles erinnert an das Fest zur Einweihung des Hauses.
»Das war das erste Mal, dass ich dich sah. Du weißt, das war der Tag, an dem ich mich in die dich verliebt habe«, flüstert Tobi mir zu. Steffen und seine Eltern beobachten uns Turteltäubchen und ich würde es lieber sehen, wenn Tobi auf mehr Abstand geht. Ich gehe ins Haus, um der provokativen Demonstration ein Ende zu machen. Wie selbstverständlich suche ich nicht das Gäste WC auf, sondern gehe ins Badezimmer. Es hat sich nichts verändert. Ich öffne neugierig den Einbauschrank, um nach weiblichen Toilettenartikeln zu spionieren. Aber außer Steffens Rasier- und Duschutensilien finde ich nichts. Ich setze mich auf den Klodeckel und denke daran, wie sehr wie über die Ausstattung gestritten hatten.
»Wer wohnt denn jetzt im Dachgeschoss«, will ich wissen, als ich in der Küche auf Steffen treffe.
»Dort habe ich mir Übungsräume eingerichtet. Zweimal wöchentlich unterrichte ich dort Thai Chi.« Er schenkt zwei Gläser Wein ein.
»Du hast zugelegt, Marie. Ganz schön dicke Möpse hast du gekriegt. Sind die echt oder hast du was machen lassen? Lass mich mal anfassen!« Er macht eine Andeutung, bei der es allerdings auch bleibt. Tobias verfolgt die Unterhaltung unbemerkt vom Esszimmer aus. Er steht mit Freunden des Bräutigams in einer Gruppe zusammen, lenkt jedoch seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf das Geschehen in der Küche.
»Viel Mühe hast du dir mit dem Fest gegeben. Nadja hat mir erzählt, dass du eine neue Partnerin hast.«
»Ich brauche keine neue Partnerin. Ich bin seit über dreißig Jahren glücklich verheiratet. Meine Frau nimmt sich nur gerade eine kurze Auszeit von unserer langen Ehe. Wenn sie wieder zur Vernunft kommt und das wird sie, dann steht ihr diese Tür immer offen«, sagt Steffen und prostet mir zu.
»Steffen, ich komme nicht
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