Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgefressen

Ausgefressen

Titel: Ausgefressen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Matthies
Vom Netzwerk:
Erschütterungen sind, begleitet von einem dumpfen, dunklen Dröhnen: Hmpf, hmpf, hmpf … Das ist kein Erdbeben. Die Ratten, denke ich als Nächstes. Brechen mit einer Dampframme in unseren Bau ein. Doch dann erinnere ich mich an Rocky, wie er breitbeinig über dem Loch stand und die Granate hineinfallen ließ, und ich weiß: Selbst wenn es bei den Ratten Überlebende gegeben haben sollte, werden sie Besseres zu tun haben, als unseren Bau anzugreifen.
    Behutsam bette ich die Spange auf ihr rotes Samtkisschen, lasse sanft den Deckel zuschnappen, klemme mir das Kästchen unter die Achsel und taste mich zum Eingang meiner Kammer vor. Das dumpfe Dröhnen kommt aus der Richtung des Versammlungssaals. Das bedeutet, U- und S-Bahn kommen als mögliche Erklärungen nicht in Betracht. Ich spitze die Ohren und folge dem Geräusch durch die Gänge. Einige Ecken weiter vermischt sich das dumpfe HMPF mit dem Kreischen junger Erdmännchen, und mir wird klar: Das Dröhnen ist Musik und kommt aus dem Versammlungssaal.
    Die Aktivboxen machen ihrem Namen alle Ehre. Der Laden ist gerammelt voll und steht kopf. Im Blitzlichtgewitter versuche ich auszumachen, wer alles da ist. Das Zentrum der Tanzfläche wird von Rocky beherrscht, einem Fellmonolith mit Krücke, das freie Vorderbein in einer Halsschlinge. Roxane umtanzt ihn wie eine notgeile Fledermaus. Rufus hat sich eine Mischpult-App runtergeladen und steht hinter dem Smartphone wie ein DJ auf seiner Kanzel. Nirgendwo auf der Welt könnte ich mich in diesem Moment stärker fehl am Platz fühlen als hier.
    Ich will in meine Kammer zurückgehen, als ich Nino und Nick entdecke. Sie haben sich in eine Ecke zurückgezogen und sitzen konspirativ um eine Zigarettenschachtel. Nick hält den Stumpf eines lila Neonstrohhalms in der Klaue. Nino entdeckt mich als Erster, entreißt Nick den Strohhalm, setzt sich drauf und wischt mit einer Bewegung, von der er glaubt, sie sei unauffällig, den Traubenzucker von der Zigarettenschachtel. Als ich zu ihnen gehe, wippen sie geschäftig mit den Köpfen, und die Krallen ihrer Hinterbeine klopfen den Takt mit. Die Aktivboxen lassen den Staub über den Boden tanzen und meine tinnitusgeplagten Trommelfelle zucken.
    If you only have love for your own race
    Then you only leave space to discriminate …
    Ich könnte Nino jetzt den Strohhalm unterm Hintern wegziehen, den Traubenzucker einkassieren und dafür sorgen, dass die beiden ab sofort Hausarrest kriegen. Auf der anderen Seite: Ist es nicht das Privileg der Jugend, sich an sich selbst zu berauschen?
    »Was hast ’n da unterm Arm?«, brüllt Nino gegen den Druck des Basswoofers an.
    »Was hast’n da unterm Arsch?«, frage ich zurück.
    »Ich?«, fragt Nino. »Nix.«
    Ich mache ein Gesicht, als sei der Rest selbsterklärend.
    »Ahhh …« Nick sieht aus wie ein Bagger mit leerem Führerhäuschen, bei Nino aber ist der Groschen gefallen. »Verstehe, Mann … Du hast
nix
unterm Arm, stimmt’s?«
    Ich mache eine Zeigefingerpistole und schieße ihn damit ab: schlaues Kerlchen.
    »Alles klar, Mann«, sagt er und beginnt wieder, mit dem Kopf zu wippen.
    »Wir sehen uns«, sage ich im Gehen.
    Noch drei Gänge weiter werde ich vom Refrain des Songs begleitet:
    Where is the love
    Where is the love
    Where is the love
    Where is the love
    Where is the love …
    Bis ich wieder in meiner Kammer bin, sind alle Gewissheiten meines Lebens zerstoben – bis auf eine: Solange diese Diamantspange unter meiner Achsel klemmt, werde ich niemals Schlaf finden, ob mit oder ohne Erdbeben.
     
    »’n Abend, Ray.«
    »’n Abend«, antworte ich. Wie bereits erwähnt: Ich habe mich ehrlich bemüht, sie auseinanderzuhalten, aber Flamingos kommen alle irgendwie aus demselben Ei.
    »So spät noch unterwegs?«, fragt er. Oder sie.
    »So spät noch unterwegs«, bestätige ich.
    Ich hab mir vorgenommen, direkt zu Elsa zu gehen, aber irgendwie bring ich das nicht. Also mache ich einen kleinen Umweg: am Steinbockfelsen und dem Kamelhaus vorbei, hinüber zum Kinderzoo und dem Vogelhaus, am Kanal entlang zum Wildhundgehege und der Kondorvoliere und zwischen Esel- und Pferdehaus hindurch. Anschließend drehe ich eine kleine Schleife um das Okapigehege und schleiche über die Terrasse des Restaurants, dann nur noch schnell am Teich und dem großen Raubtierhaus vorbei, und schon erreiche ich den Weg, der mich nach weiteren zehn Minuten zu Elsas Gehege führt. Die Nacht ist lau. Der Mond flutet die Wege mit flüssigem Silber. Warm streicht

Weitere Kostenlose Bücher