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Ausgefressen

Ausgefressen

Titel: Ausgefressen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Matthies
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die Luft durch mein Fell, und nach nur einer oder zwei Stunden hat mir das gleichmäßige Rauschen der Stadt sämtliche Gedanken aus dem Kopf gespült.
    Ich höre Elsa, bevor ich sie in ihrem Käfig ausmachen kann. Sie … Wie soll ich das beschreiben: Ist es ein Glucksen? Oder eher ein zartes Quieken? Ein gehauchtes Jaulen? Ich weigere mich, zu glauben, dass es das ist, wovon ich eigentlich längst weiß, dass es das ist, und folge Elsas kehligen Lauten wie dem Ruf der Sirene. Das Kästchen unter mein Vorderbein geklemmt, schlüpfe ich durch die Hecke und arbeite mich die Böschung hinauf, die zu ihrem Käfig führt. Bereits jetzt habe ich Tränen in den Augen. Und dennoch: Ich kann nicht umkehren. Als könne es nichts Schöneres geben, als sich selbst das Herz herauszuschneiden und es Elsa durch die Gitterstäbe zu schieben, auf dass sie Hackfleisch daraus mache …
    Vorsichtig schleiche ich mich an den Käfig heran und umklammere das Gitter. Elsas zartes, liebliches, quiekendes Glucksen wird inzwischen immer häufiger von einem keuchenden Stöhnen unterbrochen. Sie haben sich in den hintersten Winkel des Käfigs zurückgezogen. Doch der Mond scheint hell heute Nacht. Schamlos hell. Immer wieder schält sich sekundenweise Giacomos pelziger Pferdehintern aus dem Schatten, taucht ins diffuse Mondlicht ein und stößt wieder in den Schatten hinab. Unfähig, mich zu bewegen oder auch nur zu atmen, wohne ich diesem peinigenden Schauspiel bei, während meine Krallen sich um die Gitterstäbe legen und sich in das Fleisch meiner Klauen bohren.
    Elsas Keuchen steigert sich zu einem Schreien, das sich in einer finalen Blase sammelt, die schließlich zerplatzt und wie ein Regen ätzender Stacheln auf mein wehrloses Fleisch niederprasselt. Bestimmt spielt sie ihm den Orgasmus nur vor, denke ich. Doch dieser Gedanke entfaltet nicht für einen Moment die Wirkung, die ich ersehne. Kurz darauf ist nur noch keuchender Atem zu hören.
    Als ich einen letzten, tränenverschleierten Blick in den Käfig werfe, trifft er auf einen funkelnden Punkt. Ein Auge. Mein Blick wird erwidert. Von Elsa! Sie hat mich gesehen. Und ich habe sie gesehen. Reglos liegt sie unter zwei Zentnern Giacomo und macht keinerlei Anstalten, sich auch nur auf die Seite zu drehen.
     
    Benommen finde ich mich auf dem Weg wieder. Ich spüre nichts. Mein Herz ist wie abgestorben. Hackfleisch. Sogar meine Beine sind taub. Erst als ich beim Nashorngehege ankomme, werde ich mir der Schachtel bewusst, die noch immer unter meinem Vorderbein eingeklemmt ist. Ursula und Justus stehen eng aneinandergeschmiegt und schlafen einträchtig im milchigen Mondlicht. Zwei, die sich gefunden haben. Für immer. Im nächsten Moment fliegt die Schachtel mit der Haarspange in ihr Gehege, und da außer mir niemand hier ist, muss ich sie wohl geworfen haben. Ich sehe ihr nach, wie sie im unwirklichen Licht ihre Kreise dreht, bevor sie zu Füßen Ursulas im Sand landet.
    »Hallo, Ray«, begrüßt mich ein Flamingo.
    Könnte der von vorhin sein. Oder auch nicht. Ist mir so was von egal. Ich will mich gerade in den Geheimgang zwängen, um mich in meine Kammer zu verdrücken und mich dort unbemerkt vom Rest der Welt langsam und qualvoll dem Tod zu ergeben, als ich sehe, dass vor dem Flamingo, im Gras, eine Klarsichthülle liegt. In der Hülle steckt etwas, das nach, hm, Telefonkarten und Vokabelheftchen aussieht?
    »Was hast’n da?«, frage ich.
    »Weiß nicht.« Der Flamingo zupft ein paarmal lustlos mit dem Schnabel an der Hülle herum. »Lag unter dem großen Stein da vorne.«

Kapitel 10
    Rufus findet mich da, wo er mich am wenigsten erwartet: In meiner Kammer. Wie soll er auch wissen, dass mein Leben letzte Nacht seinen Sinn verloren hat? Da oben gibt es nichts mehr, was einen Gang ans Tageslicht noch wert wäre. Ich könnte Elsa und Giacomo zu ihrem jungen Liebesglück gratulieren und den letzten Rest Galle herauswürgen, der mir geblieben ist. Oder ich könnte versuchen, einmal mehr der Woge von Roxanes und Rockys geballter Geistlosigkeit standzuhalten, mit der die beiden jeden Tag aufs Neue unser Gehege fluten. Auch könnte ich auf Phil warten und mich einen Tag länger mit der Illusion trösten, ein echt gefragter Erdmännchen-Ermittler zu sein. Nein. Mein altes Leben schmeckt abgestanden, schal und sinnlos. Und ein neues wird es nicht geben.
    Die Gedanken, die meinen Geist vernebeln, sind von einem solch undurchdringlichen Schwarz, dass ich meinen kleinen Bruder erst bemerke, als

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