Ausgefressen
sitzt neben mir und keucht. War offenbar nicht einfach, mich aus dem Loch zu befreien. Die Innenseiten meiner Lider färben sich grellorange.
»Mach deine scheiß Funzel aus«, krächze ich.
Rufus schaltet die Lampe aus. »Was sollte
das
denn?«
»Weißt du, was komisch ist?«, erwidere ich.
»Sag jetzt nicht: dass du versucht hast, dir das Leben zu nehmen.«
»Komisch ist, dass du das Letzte warst, woran ich gedacht habe – bevor ich gestorben bin. Und jetzt bist du das Erste, was mir begegnet.«
»Du bist nicht gestorben, Ray. Und ich bin nicht etwas, ich bin dein Bruder. Es ist also nicht wirklich verwunderlich, dass ich es bin, der jetzt hier sitzt – statistisch gesehen.«
Ich antworte nicht. Da stecken immer noch mindestens sechs- bis achthundert Nadeln in meiner Brust.
»Rocky ist unser neuer Clanführer«, sagt Rufus in die Dunkelheit hinein.
»Weiß ich schon«, sage ich. Dann überlege ich: »Oder denke ich nur, dass ich es schon weiß?«
»Na, jetzt brauchst du jedenfalls nicht mehr zu denken, dass du es weißt.«
Ich setze mich auf. Geht. Alles noch intakt.
»Es werden harte Zeiten für uns anbrechen«, bemerkt Rufus.
Ich denke an Elsa und Giacomo und daran, dass ich das alles nicht mehr erleben müsste, wenn Rufus nur einen kleinen Moment später gekommen wäre.
»Mon Dieu!«, ruft mein Bruder aus.
Scheint sein neues It-Wort zu sein. Ich erspare mir nachzufragen. Das hätte er zwar gerne, aber ich weiß, die Erklärung kommt auch so.
Und da ist sie auch schon: »Phil steht draußen!«
»Schön.«
»Er sagt, die Waffe, die du ihm besorgt hast, sei nicht registriert gewesen.«
»Ah.«
»Und dass jetzt endgültig klar ist, dass alle vier mit derselben Waffe ermordet wurden – auch Atze. Ein Freund von der Spurensicherung hat das herausgefunden.«
»Phil hat einen Freund?«
»Das spielt doch jetzt keine Rolle, Ray. Jedenfalls ist klar, dass alle vier Morde zusammenhängen. Vier Morde, ein Fall. Du hattest recht!«
»Hab ich verstanden.«
»Das Problem ist nur: Niemand weiß, wer die drei Alten sind. Die Kripo hat nichts über sie herausgefunden. Phil sagt, er schätze, hier sei unsere gemeinsame Story zu Ende.«
»Schön.«
Bam, bam, bam. Ich bin froh, dass ich nur hören und nicht sehen muss, wie sich mein Bruder aufs Ohr haut. »Kannst du nicht mal hochgehen und mit ihm reden?«, fragt er. »Bitte, Ray.«
Inzwischen bin ich so weit wiederhergestellt, dass ich mich fortbewegen kann. Rufus scheint daraus den Schluss abzuleiten, dass ich mit ihm nach draußen gehen werde. Armer Tropf. Ich stöbere in einer Ecke nach der Klarsichthülle, die ich dem Flamingo letzte Nacht abgeschwatzt habe.
»Gib Phil das und sag ihm, dass ich unsere Zusammenarbeit hiermit als beendet ansehe.«
Rufus knipst seine Lampe an. Der Lichtstrahl dringt direkt in mein Gehirn. »Personalausweise, Führerscheine, Bibliotheksausweis … Wo hast du das her?«
»Nicht wichtig.«
»Glaubst du, es handelt sich um … die Papiere der Ermordeten?«
»Sehen auf jeden Fall ziemlich alt aus auf den Fotos.«
»Hast du dir mal die Geburtsdaten angesehen?«
»Schätze schon.«
»Und?«
»Kann ich lesen?«
»Okay, Mann. Ich meine: Wow! Ist ja echt … wow!«
»Ja, Mann, ist echt wow! Und jetzt raus hier.«
Der Lichtkegel tastet sich über den Boden und bleibt an dem Loch hängen, das ich vorhin gegraben habe. »Du machst aber jetzt nicht irgendetwas … Fatales, wenn ich dich hier allein lasse«, vergewissert sich Rufus.
»Keine Sorge. Das nächste Mal suche ich mir einen Ort, an dem garantiert nicht die Gefahr besteht, von dir gerettet zu werden.«
Nie war mein Wunsch, alleine und zusammengerollt in einer Ecke zu liegen und in Ruhe gelassen zu werden, größer als jetzt. Wo wir gerade dabei sind: Ich war auch noch nie so müde. Deshalb freue ich mich auch ganz besonders darüber, dass Rocky hereinstürmt, kaum dass Rufus meine Kammer verlassen hat. Ich spüre seine Schritte, als er noch im Gang ist. Eine Erschütterung, gegen die sich ein ICE wie eine Spielzeugeisenbahn ausnimmt.
Er humpelt herein, stützt sich auf seine Gehhilfe, richtet sich auf und stößt sich, wie immer, den Kopf an meiner Decke. »Ray?«
»Ist nicht zu sprechen.«
»Was soll das heißen?«
»Verfatz dich, Rocky.«
»Hör zu, Ray!« Ich kann praktisch sehen, wie die drei Gedanken in seinem Kopf sich gesteinsplattenartig ineinanderschieben. So etwas kann gerne mal ein paar Jahrtausende in Anspruch nehmen. Heute aber geht
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