Ausgefressen
er mir praktisch auf die in die Erde gegrabenen Krallen tritt: »Willst du nicht langsam … Mon Dieu! Bist du vergiftet worden?«
»Allerdings.« Ich lache das Lachen dessen, den das Schafott erwartet. »Mein Herz …«
Rufus zuckt nervös mit einem Auge. Immerhin schafft er es, sich nicht auf die Ohren zu schlagen. »Eros …«
»Keiner seiner Pfeile war je mit einem stärkeren Gift getränkt.«
Pathos. I love it. Wie Cola. Rufus sucht nach einer Erwiderung, doch Eros lacht sich tot über jeden, der ihm etwas entgegenzusetzen versucht. Dann fällt meinem Bruder ein, weshalb er mich gesucht hat: »Vollversammlung. Pa hat eine Vollversammlung einberufen. Er will seinen Nachfolger bekanntgeben!«
»Und?«
»Hä?« Bamm. Jetzt haut er sich doch wieder aufs Ohr. »Was soll das heißen: Und? Er will seinen Nachfolger bekanntgeben!«
»Soll er doch.«
»Bist du verrückt? Du kommst jetzt mit, und zwar auf der Stelle.« Rufus will meine Krallen aus dem Boden ziehen, hält aber inne, als ich mit Grabesstimme sage: »Rühr’ mich an, und ich kratze dir erst die Augen aus und reiße dir anschließend die Ohren ab.«
Er versucht es noch ein paarmal mit Zureden, bis ich ihm sage, dass er mich gleich gar nicht mehr anrühren muss, um künftig als blindes Erdmännchen sein Dasein zu fristen. Weiterreden würde schon reichen. Dann gibt er es auf und verschwindet.
Während sich also der Clan versammelt und Pa das Schicksal unserer Sippe besiegelt, indem er Rocky zu seinem Nachfolger ernennt, rolle ich mich zu einer Kugel zusammen und versuche, nicht mehr zu sein, nichts mehr zu spüren, keinen Gedanken mehr zu denken.
Funktioniert.
Nicht.
Ich stecke meinen Kopf zwischen die Hinterbeine, verschnüre mich mit den Vorderbeinen zu einem Päckchen und halte die Luft an. Vergeblich. Jedes Mal, wenn ein ICE über die Bahntrasse rauscht, ist unter der Erde eine leichte Vibration zu spüren. Ich kann machen, was ich will: Ich kann sie nicht
nicht
fühlen. Auch gelingt es mir nicht, nichts zu denken. Da kann ich mich noch so sehr anstrengen. Zum ersten Mal in meinem Leben beneide ich Roxi und Rocky. Die müssen echt alles geben, damit sich überhaupt auch nur
ein
Gedanke aus dem Vakuum stülpt, das Ma nicht müde wird, ihr Gehirn zu nennen. Mütter. Reden sich alles ein, um nicht den Glauben an die eigenen Kinder zu verlieren. Da: schon wieder Gedanken.
Doch ich gebe nicht auf. Mit dem Rest selbstzerstörerischer Energie, die mir geblieben ist, grabe ich ein Loch in den Boden meiner Kammer. Es ist gerade groß genug, um ein Überraschungsei darin zu versenken, ich jedoch versuche mit aller Gewalt, gleichzeitig alle vier Klauen und meinen Kopf hineinzustecken.
Und schaffe es. Was mich selbst überrascht. Das mit dem Atmen hat sich auch erledigt. Geht nämlich nicht mehr. Keine Luft. Und auch kein Zurück. Es dauert – ich tue jetzt mal so, als wüsste ich, wie lang eine Sekunde ist – ziemlich genau zwölf Sekunden, bis mir klar wird, dass ich mir tatsächlich mein eigenes Grab geschaufelt habe. Als Nächstes stelle ich fest, dass mein Überlebensinstinkt offenbar größer ist, als mein Wille zu sterben.
Reflexartig versuchen meine Hinterbeine, sich aus dem Loch zu stemmen. Guter Witz. Da bewegt sich gar nichts. Inzwischen schlägt mein Herz so wild, dass mir gleich die Ohren platzen. Was für ein … makaberer Scherz, in dieser Position zu sterben. Mein Atemreflex spielt verrückt. Elsa, denke ich. Mehr nicht. Nur ihren Namen. Immer wieder wollen meine Lungen sich mit Luft füllen. Wie ein Fisch auf dem Trockenen. Mein Herz – Drum ’n’ Bass ist Kinderkram dagegen, echt Mann. Rufus – mein letzter Gedanke. Mein kleiner Bruder, der in meine Kammer kommt und meine Leiche findet, ein Fellknäuel, das aus dem Boden ragt, Kopf und Klauen in der Erde. Was für ein armseliger Tod. Dann höre und spüre ich tatsächlich nichts mehr – nicht einmal mehr den ICE .
»Hast du versucht, dich umzubringen?«
Da ist ein Rauschen.
»Heißt das, ich lebe noch?«, antworte ich.
Ich halte die Augen geschlossen. Das Rauschen: Es ist das Blut, das aus meinem Kopf in den Körper zurückfließt. Mein Brustkorb weitet sich. Luft. Ich atme. Jede einzelne Faser meines Körpers wird von Nadeln perforiert. Mein Kopf brennt, meine Augen tränen, sinken aber langsam in ihre Höhlen zurück. Ich liege auf dem Rücken, spüre den Boden unter mir. Leichte Vibrationen. Ein ICE . Willkommen zurück im fucking Diesseits, Ray.
Rufus
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