Ausgefressen
kein Zeichentrickfilm, sondern harte Realität. Jetzt gerade haben wir die große Chance, den Fall des verschwundenen Hanno von Sieversdorf doch noch zu lösen.
Ich krabbele aufs Sofa und klettere auf Phils Schulter. »Phil! Phiiiil! Phiiiiiiiiiil!«, brülle ich in sein Ohr, aber ohne Erfolg.
Auch wilde Hüpfer auf seiner Schulter bringen nichts. Eher im Gegenteil, denn nun fordern Kaffee, Alkohol und meine plötzliche Nervosität ihren Tribut: Ich muss mich übergeben.
Mit Mühe schaffe ich es zum Yuccapalmentopf. Phil hat nichts mitbekommen, er schläft weiterhin wie ein Toter. Panisch laufe ich zum Fenster und sehe, dass Bea sich ein gutes Stück entfernt hat. Gleich wird sie irgendwo abbiegen und dann hat sich unsere Chance erledigt.
Ich spüre Nachtluft im Nackenfell. Eines der Fenster ist einen Spalt geöffnet. Leider ist es nicht jenes, das auf den Austritt zur Feuerleiter führt, über die man auf die Straße gelangen könnte. Ich müsste vielmehr über einen schmalen Sims balancieren, aber das ist Wahnsinn. Vor allem, wenn man wie ich Unmengen von Scotch und Kaffee intus hat.
Bevor ich den letzten Gedanken zu Ende gedacht habe, stehe ich bereits auf dem Sims. Es gibt einige Tiere, die diese Situation lässig meistern würden. Als jemand, der gewöhnlich unter der Erde lebt, gehöre ich nicht dazu. Zitternd vor Angst, taste ich mich zum rettenden Geländer vor. Es ist schon zum Greifen nahe, da landet direkt vor mir eine Taube.
»Such dir ’n anderen Platz, Kumpel«, sagt sie und sieht dann seelenruhig zu, wie ich vor Schreck abrutsche und ins bodenlose Dunkel taumele.
»Witzig, du kannst ja gar nicht fliegen«, höre ich sie noch sagen, derweil ich bereits schreiend Richtung Asphalt stürze. Langsam scheint es so etwas wie mein Hobby zu werden, regelmäßig den Tod vor Augen zu haben.
Ein weiches, großes Kissen fängt meinen Sturz ab. Ich gleite zu Boden und stelle nicht nur erstaunt fest, dass ich noch am Leben bin, sondern auch, dass es nieselt. Und es riecht nach Hund. Fast im gleichen Moment dreht sich das Kissen um, und die furchterregende Kauleiste eine Bernhardiners blafft mich an: »Tu das nie wieder, Kleiner!«
»Alles klar«, erwidere ich knapp, mache mich schnell aus dem Staub und sehe gerade noch, wie Bea in eine Seitenstraße einbiegt.
Ein paar Minuten später habe ich die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder zu Phils Wohnung zurückzufinden. Bea meidet die beleuchteten und teilweise noch belebten Straßen und bewegt sich stattdessen über Schleichwege auf einem Zickzackkurs durch die Stadt. Schon jetzt habe ich die Orientierung verloren, was kein Wunder ist, da mein Orientierungssinn sowieso nur für relativ überschaubare Höhlensysteme ausgelegt ist. Und seitdem Rufus unser Gehege nicht nur kartiert, sondern auch logisch gegliedert und obendrein an kritischen Stellen mit blinkenden Hinweislichtern versehen hat, scheint mir auch das Gefühl für Himmelsrichtungen abhandengekommen zu sein.
Während ich noch darüber sinniere, was ich wohl machen werde, wenn ich das Ziel von Beas nächtlichem Spaziergang kenne, weht mir eine Windböe einen Schwall Nieselregen ins Gesicht. Zugleich stürze ich im Halbdunkel über einen undefinierbaren Gegenstand.
Kaum hab ich mich wieder hochgerappelt, sehe ich gerade noch, wie Bea in eine Seitengasse einbiegt. Ich will ihr folgen, aber da ergreift mich eine Pranke mit Pulswärmern, und ein Feuerzeug flammt auf. Der Gegenstand, über den ich gestolpert bin, ist ein löchriger Schuh, der zu einem Obdachlosen gehört.
»Du verdammte Ratte wolltest mich beißen, was?« Sein Atem riecht fast so schlecht wie seine Klamotten. »Dafür werd ich dir den Hals umdrehen.«
Im nächsten Moment wollen sich seine Finger um meinen Hals zusammenziehen. Da ich keine Zeit für lange Erklärungen habe, jage ich ihm meine Krallen in den Handrücken und husche wortlos in die Dunkelheit, begleitet von seinen wilden Flüchen. Atemlos erreiche ich die Ecke, hinter der Bea eben verschwunden ist. Meine schlimmste Befürchtung bewahrheitet sich: Sie ist weg.
Ich sprinte bis zum Ende der Straße, spähe nach allen Seiten. Aber auch hier ist sie nicht. Ich versuche es an der nächsten Querstraße, dann laufe ich auch noch zur anderen Seite, habe aber die Hoffnung schon aufgegeben. Kurz darauf habe ich Gewissheit: Bea ist mir durch die Lappen gegangen.
Wenn es jemals so ausgesehen hat, als hätte ich Talent für eine Karriere als Detektiv, dann habe ich heute Nacht
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