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Ausgefressen

Ausgefressen

Titel: Ausgefressen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Matthies
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lebend. Außerdem kommt bei der Aktion niemand aus deinem Clan zu Schaden. Richtig?«
    Ich nicke und rufe Phil, damit der die Voliere öffnen kann.
    »Ich vertraue dir«, sage ich zu Otto. Der Satz soll meine Nerven beruhigen, denn in Wirklichkeit habe ich nun doch leise Zweifel.
    Phil öffnet die Voliere. Otto breitet seine mächtigen Schwingen aus, hebt ab und braucht nur zwei, drei Flügelschläge, um das Greifvogelhaus zu verlassen. In einem eleganten Bogen gleitet der Adler durch den Nachthimmel und landet auf der Spitze einer Großvoliere.
    Er schaut zu den Hochhäusern, deren Fenster aus der Ferne wie kleine Lichter aussehen. Etwa wie jene, die jeden Winter in den Tannenbaum am Haupteingang gehängt werden.
    Dann hebt Otto wieder ab und landet vor uns auf dem Weg. Der Luftzug seiner mächtigen Schwingen lässt mich frösteln. Er dreht mir den Kopf zu. »Bea und dieser alte Kerl sind in dem ockerfarbenen Hochhaus in der Mitte. Fünfte Etage von oben, ich glaube das ist der neunzehnte Stock. Die Wohnung liegt ganz links, zwei Fenster zeigen in unsere Richtung. Nach hinten raus gibt es einen Balkon, glaube ich. Man kann ein kleines Stück davon sehen.«
    Ich stehe da wie vom Donner gerührt. »Aber …?«
    »Bea trägt eine karierte Bluse und Jeans. Den alten Mann habe ich auch schon gesehen. Er wirkt schwach, aber es geht ihm gut. Er liegt jetzt auf dem Sofa, tagsüber war er auf dem Balkon.«
    Mir wird schlagartig klar, dass Otto nicht wieder in die Voliere zurückkehren wird. Wenn es ihm um ein paar Mäuse gegangen wäre, dann hätte er uns die gewünschten Informationen liefern können, ohne die Voliere zu verlassen.
    »Wie lange weißt du das schon?«
    »Als du mir von dem Plan erzählt hast, habe ich mir von hier aus schon mal jene Fenster angeschaut, die in unsere Richtung zeigen. Die Häuser sind eine knappe Meile entfernt. Auf diese Distanz erkenne ich eine Maus.«
    »Hätte ich auch selbst drauf kommen können«, erwidere ich.
    »Steht, glaube ich, sogar auf dem Schild am Greifvogelhaus.«
    »Egal. Jedenfalls wird der Zoodirektor toben«, sage ich.
    Otto streckt seinen Hals. »Tut mir leid, Ray. Ich habe euch gesagt, wo ihr Bea finden könnt, und ich werde deinem Clan kein Haar krümmen. Aber es war keine Bedingung, dass ich mich wieder einsperren lasse.«
    Er stößt sich ab und beginnt zu kreisen. Langsam steigt er höher und höher.
    Die Buntfalken verstehen zuerst, was vor sich geht. Wild flatternd und hysterisch kreischend verabschieden sie ihren König, als wäre der ein Popstar.
    Binnen weniger Atemzüge sind auch die anderen Vögel im Bilde, und dann verbreitet sich die Nachricht von Ottos Flucht wie ein Lauffeuer im gesamten Zoo. Überall hört man nun Gewisper, Gefiepe und Geknurre, das langsam lauter wird und sich in Fauchen, Grunzen und Brummen verwandelt, bevor es schließlich in ohrenbetäubendes Schreien, Kreischen und Brüllen mündet. Die ganze Stadt müsste bei diesem Lärm aufwachen.
    Mit einem lauten Klacken wird es nun taghell im Zoo. Phil und ich nehmen Deckung hinter einem Mauervorsprung. Opa Reinhard hat die Flutlichter eingeschaltet. Unser Nachtwächter vermutet wahrscheinlich, dass Einbrecher die Tiere aufgeschreckt haben.
    Instinktiv schaue ich nach oben und sehe, dass auch der Himmel über dem Zoo erleuchtet ist. Und inmitten dieses Lichtermeeres schwebt Otto wie ein Wesen aus einer anderen Welt.
    Der Lärm verebbt, bald herrscht völlige Stille auf dem Gelände. Alle recken die Köpfe und betrachten fasziniert den Weißkopfseeadler, der durch die Lüfte gleitet, als würde er nie wieder die Erde berühren wollen.
    Der Anblick löst ein seltsames Gefühl in mir aus. Unwillkürlich denke ich an Pas Afrikageschichten. Kommt mir fast so vor, als wäre ich schon einmal dort gewesen.
    »Phil!«, flüstere ich. »Kannst du mich bitte mal hochheben?«
    Mein Partner zögert nicht lange, setzt mich auf seine Hand und streckt den Arm aus. Ich recke meinen Kopf in den Nachthimmel.
    »Mach’s gut, Otto!«, brülle ich, so laut ich kann. »Guten Flug! Halt die Ohren steif! Und grüß mir die Rockies!«
    Während aus den Käfigen und Gehegen zustimmendes Klopfen und Stampfen zu hören ist, zieht Otto nun die Flügel an seinen Körper und lässt sich vom Himmel herabstürzen. Er rast auf mich zu und schießt erst kurz, bevor er mich erreicht hat, wieder wie eine Rakete in die Höhe. »Danke! Werde ich tun, Ray«, zischt er mir dabei ins Ohr.
    Dann dreht er endgültig ab und verschwindet

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