Ausgefressen
im Dunkel der Nacht. Es sieht aus, als würde er mit ihr verschmelzen.
Stille. Der Moment hat allen den Atem verschlagen.
Phil nimmt seinen Arm herunter und schaut mich vorwurfsvoll an. »Hast du mir da gerade auf die Hand gepinkelt?«
»Kumpel, da ist gerade ein Weißkopfseeadler so nah an mir vorbeigeflogen, dass mich seine Halsfedern berührt haben. Sei froh, dass nicht noch ganz andere Sachen passiert sind!«
Kapitel 18
Der Clan hat Rufus die Geschichte vom Adlerausbruch abgekauft. Offiziell wurde Ottos Voliere von ein paar übermütigen Papageien geknackt. Rocky und Pa haben nicht mal einen Gedanken daran verschwendet, dass ich hinter der Sache stecken könnte. Es erscheint ihnen wohl einfach zu abwegig, dass ein Erdmännchen einen Weißkopfseeadler befreit.
Es hat sich herumgesprochen, dass Otto auf dem Weg in seine Heimat ist. Da das aber niemand hundertprozentig weiß, hat Rocky die Wachen verdoppelt, nicht zuletzt auf Anraten von Pa, der eine ähnliche Situation schon mal in Afrika erlebt haben will. Man befürchtet jedenfalls, dass der Adler gelogen haben könnte und nun irgendwo in der Nähe des Zoos auf eine günstige Gelegenheit wartet, um den Clan anzugreifen. Rocky passt die angespannte Situation politisch gut in den Kram. Der Clan braucht einen starken Mann, und das ist Rockys Paraderolle.
Mir soll der ganze Rummel recht sein. Solange die Angst vor einem Adlerangriff umgeht, habe ich den besten Sonnenplatz auf unserem Hügel ganz für mich allein. Seit Tagesanbruch beobachte ich unseren Zoodirektor, den die Nachricht von Ottos Flucht spontan in einen gebrochenen Mann verwandelt hat. Gerade telefoniert er lautstark mit einem Laden namens Versicherung. Ich glaube, man kann dort neue Weißkopfseeadler kaufen, und der Direktor versucht, einen zu bekommen, bevor der Zoo öffnet. Das wird knapp, weil draußen schon das Quatschen und Kichern der Schulklassen zu hören ist. Gleich öffnen sich die Pforten, und die vorlauten Kids werden wissen wollen, warum der König der Lüfte sich heute nicht dem Publikum zeigt. Ich würde zu gerne hören, wie der Direktor sich rausredet, aber die Pflicht ruft. Mein Partner und ich müssen heute Hanno von Sieversdorf befreien. Es ist der krönende Abschluss unseres ersten gemeinsamen Falles. Wieder einmal werden Gesetz und Ordnung über das Verbrechen triumphieren in dem alten, nie enden wollenden Kampf: Gut gegen Böse.
»Morgen, Ray.« Mein Partner reißt mich aus meinen Detektivphantasien. Er wirkt frisch und ausgeschlafen, hat einen dampfenden Becher Kaffee in der einen Hand und ein Croissant in der anderen. »Otto hatte recht. Es ist der neunzehnte Stock. Apartment 19 c. Die Wohnung ist auf eine Schweizer Firma zugelassen, die zu einem deutschen Unternehmen gehört. Und jetzt rate mal, wer der Eigentümer ist.«
»Wenn du mich so fragst, dann würde ich sagen: Hanno von Sieversdorf.«
Phil nickt. »Das spricht dafür, dass der alte von Sieversdorf nicht entführt worden ist. Im Gegenteil. Sieht so aus, als hätte er seinen Tod vorzutäuschen versucht. Fragt sich nur noch, warum.«
Ich überlege. »Entweder das, oder Bea wusste von der Wohnung und hat sich Hannos Vertrauen erschlichen, um ihn in eine Falle zu locken. Und jetzt ist er ein Gefangener in seinen eigenen vier Wänden.«
»Und sie pflegt ihn gesund, stellt aber keine Lösegeldforderung?«
»Vielleicht kommt das ja doch noch.«
»Ich glaube, es wäre ein zu großes Risiko, die Wohnung als Versteck zu nutzen. Constanze könnte davon wissen«, erwidert Phil.
»Oder es ist gerade deshalb kein Risiko, weil Constanze niemals in der eigenen Zweitwohnung nach ihrem Vater suchen würde«, halte ich dagegen.
Phil steckt das angebissene Croissant in die Tasche seines Trenchcoats und wirft den leeren Kaffeebecher in den nächsten Mülleimer. »In Kürze werden wir es wissen«, sagt er und streckt die Hand aus. »Steig auf, Partner.«
Das ockerfarbene Hochhaus ist vornehm renoviert. Im großzügigen Eingangsbereich blitzt ein schneeweißer Marmorboden. Hinter dem mit dunklem Holz vertäfelten Empfangstresen wacht ein drahtiger Sicherheitsmann darüber, dass kein Unbefugter zu den weiter hinten liegenden Fahrstühlen oder ins Treppenhaus gelangt. Wer hier wohnt, ist offenbar sehr gut vor ungebetenen Gästen geschützt.
Durch eine Drehtür gelangen wir in den Empfangsbereich. Phil, ganz Profi, hat sofort einen Plan. »Du lenkst den Kerl ab! Ich laufe zu der Tür, die ins Treppenhaus führt und warte da
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