Ausgeliehen
ich würde dieses perfekte Buch zwar kennen, hätte es aber gerade verliehen. Nicht dass ich oft gefragt wurde. Ab und zu kamen mein Vermieter Tim oder sein Freund Lenny und stöberten in den Stapeln, um dann die beste Frage der Welt zu stellen: »Hey, welches Buch kannst du mir denn empfehlen?« Es war jedenfalls gut, vorbereitet zu sein.
Diese Stapel waren die Hauptdekoration meiner Wohnung. Von meinen Eltern hatte ich ein paar schöne Stücke bekommen, dazu gesellten sich einige rechtwinklige Standardmöbel von IKEA , aber ich war in den drei Jahren, die ich hier wohnte, noch nicht dazu gekommen, Bilder aufzuhängen. Mein Bett bestand noch immer aus einer Matratze auf dem Fußboden. Vielleicht lag mir wegen der Familiengeschichten meines Vaters die Vorstellung, über Grenzen fliehen zu müssen, nie ganz fern. Abgesehen von Büchern hatte ich nie danach gestrebt, mehr Besitz anzuhäufen, als sich mit dem Gepäckträger auf einem Autodach transportieren ließ. Man konnte nie wissen, wann die Kosaken einfielen.
Eine Woche später kam ein Paket von meinen Eltern. Darin waren zwei Ausgaben des Holyoke-Absolventenmagazins, ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, meine neue Adresse dort anzugeben. Ferner waren in dem Paket noch eine Packung Schoko-Trüffel und ein Leitartikel der Chicago Tribune über das Anti-Terror-Gesetz. Ich fühlte mich ehrlich geschmeichelt, weil mein Vater meine Arbeit plötzlich für gefährlich hielt, wenn sie schon nicht aufregend war. Fast hätte ich mir gewünscht, es wäre so. Während meiner ganzen Kindheit hatte ich Geschichten über russische Revolutionäre und Flüchtlinge gehört, ich war auf einen großen Kampf vorbereitet worden. Und da war ich nun und konnte gegen niemanden rebellieren, nur gegen Loraine Best. Und gegen Janet Drake, die nicht einmal meinen Namen kannte.
Ich lag ausgestreckt auf dem Boden und las in dem Magazin über eine frühere Klassenkameradin, die im ersten Studienjahr mit mir im selben Studentenwohnheim gewohnt, Räucherstäbchen abgebrannt und Gespritzten getrunken hatte. Sie hatte in Maine ein Heim für misshandelte Frauen gegründet und neulich vor dem Kongress eine Rede gehalten. Auf der nächsten Seite wurde von einer jungen Frau berichtet, die erst in diesem Frühjahr ihr Studium beendet hatte und sich nun mit Messungen bezüglich der Gletscherschmelze beschäftigte, wenn sie sich nicht darum kümmerte, Fördermittel einzutreiben. Eine Frau aus der Abschlussklasse 1984 machte in Kalifornien Lobbyarbeit für die Rechte der Schwulen. Es gab ein Foto von ihr und ihrer Partnerin in einer Scheune aus dem 19. Jahrhundert, die sie gemeinsam restaurierten.
Ich stellte mir vor, was sie über mich wohl schreiben könnten:
Lucy Hull, Abschlussklasse 2002, zeigte Mut, als sie heute Der Krieg der fliegenden Händler einem zehnjährigen Leser auslieh, trotz der Tatsache, dass es darin von Blasrohren nur so wimmelt und das Buch überhaupt nichts mit Gottes Atem zu tun hat.
»Ich hatte eigentlich keine andere Wahl«, sagte die 26-jährige Hull, die in ihrem Leben noch nicht viel getan hat, außer Bücher zu stempeln, ins Regal einzuräumen und sie mit verstellter Stimme laut vorzulesen. »Es ist grundsätzlich illegal, jemandem, der einen Bibliotheksausweis besitzt, ein Buch zu verweigern. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum ihr mich interviewt.«
Hull lebt allein, über einem Theater, vergisst oft, genügend Flüssigkeit zu trinken, und bekommt vom Stoff ihres Bürosessels Ausschlag hinten auf den Beinen.
In dieser Nacht träumte ich von Ausleihkarten. Loraine zeigte mir ein einfaches rotes Buch und fragte mich, wer es ausgeliehen hatte. Ich las ihr die Karte vor: Ian Drake, George W. Bush und Gott der Allmächtige.
4
Die Arche
Ich musste gestehen: Ian war genial. Eines Tages im November kam er mit seinem Kindermädchen, nachdem er einige Wochen unter kontrollierter Begleitung halbherzig verschiedene Biographien und eine Sammlung indianischer Mythen und Legenden ausgeliehen hatte. (»Es geht immer um Krähen«, hatte er gesagt, als er das Buch zurückbrachte. »Nach meiner Ansicht ist dieses Buch zu krähenlastig.«) Sonja, sein Kindermädchen, war eine schmuddelige Filipina mit einer eigenen fünfjährigen Tochter, die sie manchmal still begleitete und still in der Ecke ihre Puppen streichelte. Wenn Ian Jugendromane wählte, blätterte Sonja sie schnell durch, als könne sie feststellen, ob sie geeignet waren, und fragte dann: »Was wird deine Mutter dazu
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