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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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Replay-Taste.
    »Komm, lernen wir es auswendig«, sagte er, und so verbrachten wir die nächste Stunde mit Singen und mit dem Versuch, die Worte zu verstehen. Wir waren ziemlich gut, und als wir es ohne Kassette versuchten, waren wir zwar nicht perfekt, aber wir hatten Schmackes, wie es Ian formulierte.
    Als ich ihn betrachtete, wie er mit der Mütze auf dem Herzen die Hymne eines anderen Landes sang, stellte ich mir einen Ian vor, der woanders geboren worden war, in Finnland oder San Francisco, oder erst in hundert Jahren, in einer Welt ohne Pastor Bobs. In Amerika war fast alles wie Hannibal, Missouri, egal was in den Nachrichten über die Städte der Ostküste war, egal was Filme zeigten, egal wie viele Sitcoms es zur Hauptsendezeit gab, in denen couragierte schwule Typen gezeigt wurden. Der Fairness halber sollte ich sagen, dass vielleicht der ganze Planet so war wie Hannibal, Missouri.
    Um die australische Hymne aus dem Kopf zu bekommen, machte ich das Radio an und drehte am Sendeknopf. Ian interessierte nichts, bis wir einen christlichen Sender erwischten.
    »Mach das lauter! Ich liebe dieses Lied!«, sagte er und sang mit:
    »When Jesus walked oh-oh!
On the mountain tops oh-oh!
He didn’t stop no-ho!
No he didn’t stop!«
    Es hörte sich an wie eine Band aus Seattle aus den neunziger Jahren, jedoch mit Jesus-Texten.
    »Wo hast du das gelernt?«, fragte ich.
    »Ach, ich gehe doch in diese … in diese Klasse mit den Kindern. Es ist ganz okay. Wir hören Musik, und manchmal bringt einer der Gruppenleiter seine Gitarre mit.«
    Ich wollte ihn nicht drängen, aber ich dachte, es tue ihm gut, darüber zu reden. »Was macht ihr da noch?«
    »Alles Mögliche. Zum Beispiel machen wir Arbeitshefte und wir lesen dies und das. Und wir machen immer Sport. Meistens spielen wir Football, aber ohne Berühren.«
    Ich schaute nach links aus dem Fenster, damit er nicht mitbekam, wie ich ein Lachen unterdrückte. Zum einen lag es am Bild von Ian, der Football spielte. Ich erinnerte mich an einen Familientag in der Bibliothek, als ich ihm einen Ball zugeworfen hatte und er sich duckte. Und zum anderen lag es daran, dass man ihnen dort kein Berühren erlaubte.
    »Bringen sie euch etwas bei?«
    »Ja, das ist eine Art Sonntagsschule. Nur dass es mehr Spaß macht, weil man Jeans anziehen darf.«
    »Taugt das was? Glaubst du an das, was man euch dort erzählt?«
    Er zog die Sonnenblende der Beifahrerseite herunter und schaute in den Spiegel, während er den Mund zu einem Fischmaul verzog. »Na ja, es steht alles in der Bibel, also muss es auf jeden Fall stimmen.«
    Dem war schwer etwas entgegenzuhalten, schließlich hatte ich nicht vor, seine Religion anzugreifen. Bedauerlicherweise war meine Motivation, zu schweigen, nicht Empathie, sondern Strategie – wenn er wütend auf mich wurde, könnte er vielleicht das nächste Telefon benutzen, um mich auszuliefern.
    Also sagte ich mit einer fast neutralen Stimme: »Ich weiß Bescheid über diese Art von Unterricht.« Es war eine Einladung, den peinlichen Teil des Gesprächs zu überspringen und mir mehr zu erzählen.
    Aber er sagte gar nichts, er saß nur da und schaute aus dem Fenster.

16
    Kopf am Spieß
    Als Ian wieder redete, erkundigte er sich nach dem Aufkleber mit der russischen Flagge auf meiner Heckscheibe. Mein Vater hatte ihn im letzten Sommer hingeklebt, während eines plötzlichen Anfalls von Nationalstolz. Ungefähr zu jener Zeit hatte er mich gefragt, ob ich meinen Namen nicht zurückändern wollte in Hulkinow. Er selbst könne das nicht – es würde zu viele Geschäftsbeziehungen durcheinanderbringen –, aber für mich, meinte er, würde das doch keine Rolle spielen.
    Mein Vater hatte für jeden Zweig im Hulkinow’schen Stammbaum eine Geschichte, beginnend mit dem gelehrten Krieger mit dem berüchtigten aufgespießten Kopf. Er trug am Zeigefinger seiner rechten Hand einen Ring mit dem Familienwappen, wie man es sonst nur von fragwürdigen europäischen Geschäftsleuten kennt.
    »Dieser junge Mann da«, hatte er in meiner Kindheit während unserer langen Samstagsfrühstücke oft gesagt und dabei den Ring gelockert, bis er wie ein Schlagring von seinem angewinkelten Finger rutschte, »war ein Haudegen, er packte den Stier bei den Hörnern. Der nächste Hulkinow war sein Sohn, der sich im Weizenfeld versteckte, als der Feind kam, um Rache zu nehmen und den einzigen Sohn des großen Kriegers zu töten. Sie glaubten, sie würden ihn zu Hause antreffen, aber er war

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