Ausgeliehen
sie war groß und klobig und sah aus, als hätte er sie nie zuvor getragen. Ich fragte mich, ob er die Mütze unter seinem Bett hervorgekramt und mitgenommen hatte, weil es ihm passend erschien, mit einer solchen Mütze auszureißen.
Ich fuhr zurück zur Autobahn. »So, Kumpel, wohin fahren wir jetzt?«
Er sah erstaunt aus, als habe er vergessen, dass er der Navigator war. »Oh, bleib noch eine Weile auf dieser Straße.«
»Wir fahren auf Chicago zu«, sagte ich. »Wohnt deine Großmutter nicht zufällig in Chicago? Ich kenne dort eine Möglichkeit, wo wir unterkommen können, das ist viel netter als in einem Hotel. Es wird ziemlich lange dauern, bis wir hinkommen, aber dann gibt es viel zu essen und Bücher.«
»Wir müs-sen de-fi-ni-tiv durch Chi-ca-go fah-ren«, sagte er, jetzt offenbar in der Rolle eines Roboters. »A-ber sie wohnt nicht dort.«
»Na prima.«
Ich überlegte ein letztes Mal, zu wenden und, ohne es ihm zu sagen, nach Hannibal zurückzufahren. Ich könnte ihn von den Straßenschildern ablenken, wenn ich es wirklich wollte. Wir würden bei Dunkelheit ankommen, ich würde ihn an einer Straßenecke aussteigen lassen und die Stadt wieder verlassen. Aber ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie er trockenen Auges schluchzen würde: »Sie ist am Sonntag gekommen, als die Bibliothek gerade zumachte, und hat mich gezwungen, ins Auto zu steigen, und sie hat gesagt, sie fährt mit mir Süßigkeiten kaufen! Und ich liebe Süßigkeiten, und ich konnte nicht anders, sie war ja keine Fremde! Und dann hat sie alle möglichen Fragen gestellt, vor allem darüber, wie viel mein Vater verdient!« Es würde eine landesweite Suche gestartet werden, und die Nachrichtensender würden der Geschichte eine eigene Kennmelodie verpassen. Ich hatte keine Chance, auch nicht in Mexiko. Und außerdem hatte ich nicht einmal meinen Reisepass dabei. Nein, er musste aus eigenem Antrieb nach Hause wollen, und nach dem glücklichen Gesichtsausdruck zu urteilen, mit dem er wie ein Golden Retriever den Kopf aus dem Fenster schob, war das noch lange nicht der Fall.
Fünfzig Kilometer später, fünfzig Kilometer entfernt von gestern Morgen, als ich mein Leben noch nicht hingeworfen und das seiner Eltern noch nicht zerstört hatte, sagte er: »Miss Hull, hast du irgendwelche CDs dabei?«
»In meinem Auto kann man nur Kassetten hören, aber die habe ich auch nicht.«
Ian steckte seinen Finger in die Ritze des Kassettenrecorders, dann zog er ihn heraus und drückte auf die Auswurftaste. Eine Kassette sprang heraus, die ich nie zuvor gesehen hatte.
»Die gehört mir nicht«, sagte ich.
Mir wurde klar, dass ich den Kassettenrecorder in den zwei Jahren, seit ich das Auto besaß, nie benutzt hatte. Auf dem Weg zur Arbeit hörte ich National Public Radio und auf dem Weg nach Hause brauchte ich Ruhe, um mich durch den Berufsverkehr zu schlängeln. Ich hatte das Auto von einem jungen Mann in Kenton gekauft, der mir das Auto voller McDonald’s-Verpackungen, Golfbälle und Zigarettenstummel übergeben hatte.
»Vielleicht ist es eine Karaoke-Kassette!« Er steckte die Kassette hinein und spulte sie zurück. Ich war überrascht, dass der Recorder tatsächlich funktionierte.
»Und jetzt …«, rief es von der Kassette. Ian beugte sich vor und stellte den Ton leiser.
»… unsere Nationalhymne, gesungen von … Miss Gina Arena!« Eine stadiongroße Menge jubelte, als wüssten alle, wer diese Frau war. Plötzlich reckte sich Ian in seinem Sitz, nahm die Schirmmütze ab und hielt sie sich aufs Herz.
»Froh lasst uns jubeln, Einwohner Australiens, denn wir sind jung und frei« ,sang eine Frauenstimme, glockenhell und engelhaft. Hinter ihr sang das Publikum mit.
»Was ist das ?« Ian hielt seine Mütze über sein Brustbein, unsicher, was das Protokoll vorschrieb.
»Mit unserem Goldnen Boden streben wir nach Reichtum, das Meer umschließt unsere Heimat!«
»Das müsste die Nationalhymne Australiens sein.« Ich hatte den Akzent des Sprechers nicht erkannt. Ich konzentrierte mich aufs Fahren, auf die Millionen Bilder des Untergangs, die vorbeirauschten. »Unser Land ist reich an Gaben der Natur, von kostbarer und erlesener Schönheit, möge im Buch der Geschichte in jedem Zeitabschnitt das schöne, glückliche Australien weiter voranschreiten!« Wir lachten beide bis zum Schluss der Hymne, aber Ian legte seine Mütze nicht zur Seite. Als das Lied zu Ende war und ein uraltes Weltmeisterschaftsspiel begann, drückte er auf die
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