Ausgeliehen
sei die Treppe hinunter auf die Rollbahn getorkelt. Das Bodenpersonal am Gepäckwagen der PanAm habe sich umgedreht, ihn angestarrt und gelacht. Manchmal frage ich mich, ob er das als Erlaubnis verstanden hatte, jeden Amerikaner, den er kennenlernte, abzuzocken, sich selbst in der Rolle des gelehrten Kriegers zu sehen und jeden anderen als potentiellen aufgespießten Kopf. Er hatte sehr wenig bei sich – die Bekleidungsstücke vom italienischen Camp, hundert Dollar und seine Papiere –, aber er besaß den Ring und die dazugehörigen vierhundert Jahre überlieferter Kriegsgeschichte.
In seinen samstäglichen Litaneien pries er die Hulkinows als Abenteurer, die sich barhäuptig in den Kampf stürzten. Doch nun wurde mir klar, dass die Hälfte nur Ausreißer gewesen waren. Und was war mit mir, die ich mit jedem Kilometer, den ich mich von zu Hause entfernte, tiefer in den Schlamassel geriet?
Zum Mittagessen hielten wir an einem Hamburger-Restaurant, unsere dritte Fastfood-Mahlzeit in zwei Tagen. Weil wir beide die Nase voll hatten von dem fettigen Zeug, bestellten wir kleine, anämische Salate in durchsichtigen Plastikbehältern, und nachdem Ian seinen Kopf gesenkt und etwa zehn Sekunden geschwiegen hatte, ertränkte er seinen Eisbergsalat in Joghurtdressing. Ich stocherte mit einer Plastikgabel im Salat herum und aß nicht viel. Lieber Gott, ich verwandelte mich allmählich in Janet Drake. Ian begann, mir alle entsetzlichen Verletzungen aufzuzählen, die alle Menschen, die er kannte, je erlitten hatten. Der Zahn eines Mädchens steckte in der Stirn eines anderen Mädchens, eine Frau holte sich von herumfliegenden Mardi-Gras-Perlenketten eine blutige Nase, ein Klassenkamerad fing sein eigenes Ohr mit einem Angelhaken.
»Und wie hast du die Narben über deinen Augenbrauen bekommen?«, fragte ich.
»Das ging so.« Er stellte seine Plastikgabel am Tischrand auf und spielte vor, wie er seinen Kopf in die Zinken gerammt hatte. Zumindest teilweise hatte ich recht gehabt. »Ich war sauer auf mich selbst, nehme ich an. Ich habe es vergessen.«
Das hörte sich nach ihm an, als hätte er sich um der dramatischen Wirkung willen selbst Schmerzen zugefügt. Ich glaubte ihm. Doch ich begriff auch, dass sich der einzige vage Beweis für körperlichen Missbrauch soeben in Luft aufgelöst hatte. Ian stopfte sich eine Kirschtomate in den Mund und schluckte sie unzerkaut hinunter.
Als wir wieder im Auto waren, hörte ich meine Mailbox ab. Von der Bibliothek war noch immer nichts gekommen, inzwischen kam mir das etwas seltsam vor, doch ich hatte eine Nachricht von Glenn, wir müssten über das Wochenende reden. Für Freitag hatten wir geplant, mexikanisch essen zu gehen und uns einen Blockbuster anzusehen. Als Ian eingeschlafen war, mit der Stirn am Fenster und der Brille auf dem Schoß, rief ich Glenn an. »Hi, ich rufe von unterwegs an«, sagte ich. Es hatte keinen Sinn, ihm vorzumachen, ich wäre noch in Hannibal – und wenn es nur dafür gut war, dass er nicht wieder in der Bibliothek auftauchte. »Genau genommen bin ich auf dem Weg nach Chicago.«
»Chicago?«
»Habe ich dir das nicht gesagt?«, fragte ich. »Ich bin sicher, dass ich es dir gesagt habe. Ich habe doch diese alte Freundin von der Highschool, die krank geworden ist, und ich hatte vor, einige Tage zu ihr zu fahren, aber es sieht aus, als könnte es länger dauern.«
»Chicago« , sagte er noch einmal. »Das ist komisch.« Er hörte sich sonderbar an, als glaube er mir nicht. Ganz kurz fragte ich mich, ob die Polizei mithörte. Vielleicht saß er auf dem Polizeirevier, schwitzte wie sonst was und versuchte, Ruhe zu bewahren, in der Hoffnung, mich so lange an der Leitung zu halten, wie es nur möglich war. Aber das stimmte natürlich nicht. Das hier war kein Film. Die Mühlen mahlten nicht so schnell in Hannibal.
»Ja, ich wohne bei meinen Eltern.«
Aber wir konnten nicht länger als eine Nacht dort bleiben – auch wenn Glenn jetzt noch nicht abgehört wurde. Je mehr Zeit verstrich, desto wahrscheinlicher wurde es, dass die Leute Zeitung lasen und Informationen sammelten. Wenn der Verdacht auf mich fallen sollte, würden ihnen Glenn und Rocky sofort sagen, wo sie nach mir suchen sollten.
»Und, ist deine Freundin okay?«
Ich glaubte mich verhört zu haben und dachte einen Augenblick lang, dass er Ian meinte. Doch ich fing mich noch rechtzeitig. »Sie wird gesund werden, da bin ich mir sicher. Ich helfe nur ein bisschen aus.«
»Hüte dich davor,
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